30. Mai 2023
Interviews

Rüstung: Noch keine Aufträge aus Berlin

Claus Ruhe Madsen besuchte kürzlich den Wedeler Rüstungsbetrieb Vincorion. Er und Geschäftsführer Dr. Stenzel erklären im Interview, warum die Zeitenwende bislang ein Schuss ins Blaue ist.

Vincorion Geschäftsführer Dr. Stefan Stenzel und Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister Claus Ruhe Madsen (v.l.) // Foto: Vincorion - Vincorion erwirtschaftet 70 Prozent seines Umsatzes mit Rüstung.

Vincorion Geschäftsführer Dr. Stefan Stenzel und Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister Claus Ruhe Madsen (v.l.) // Foto: Vincorion

Herr Stenzel, Wirtschaftsminister Madsen besucht Vincorion heute auf Ihre Einladung. Was erhoffen Sie sich von diesem Besuch?

Dr. Stefan Stenzel: Wir sind ein Technologieunternehmen aus dem industriellen Mittelstand. Ich möchte Herrn Minister Madsen gern die Lage bei uns zeigen: Wir stehen bereit für neue Aufträge der Bundeswehr, um sie mit zeitgemäßem Gerät auszurüsten. Aber diese Aufträge kommen bislang nicht bei uns an. Deshalb wünschen wir uns in der Industrie mehr Planbarkeit und Verlässlichkeit vonseiten der Politik. Bei der Beschaffung sollte es keine weiteren Verzögerungen geben.

 

Herr Madsen, können Sie diese Hoffnung erfüllen?

Claus Ruhe Madsen: Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Wehrtechnik-Branche eine große wirtschaftliche Bedeutung für den Norden hat. Wir als Landesregierung wollen, dass ein guter Teil des 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens für die Bundeswehr auch bei uns ausgegeben wird. Neues Material für die Streitkräfte muss zügig beschafft werden, das ist sicherheitspolitisch und wirtschaftspolitisch geboten. Darauf versuche ich auch in Berlin hinzuwirken.

 

Wo bleiben die  Aufträge der deutschen Regierung?

 

Herr Stenzel, Sie sagten anlässlich des Besuches, dass aus dem deutschen Sondervermögen noch nichts ausgegeben wurde. Können Sie näher erläutern, was das in Bezug auf Vincorion bedeutet?

Dr. Stefan Stenzel: Wir sind an unseren drei Standorten in der Lage, neue Aufträge anzunehmen, aber bisher haben wir noch keine erhalten, obwohl wir bei den wichtigsten Plattformen zuliefern, die jetzt in der Ukraine eingesetzt werden, zum Beispiel den Leopard 2 oder die Panzerhaubitze 2000.

Gleichzeitig müssen wir aber unsere Kapazitäten auslasten. Und Mitarbeiter, die hier in Wedel zum Beispiel Komponenten für Leopard 2 oder Puma bauen könnten, müssen wir zeitweise in anderen Bereichen unseres Unternehmens einsetzen. Außerdem haben manche Teile, die wir verarbeiten, lange Lieferfristen. Wir können sie nicht auf Vorrat bestellen. Wenn die Bestellungen aus dem Sondervermögen dann erst spät kommen sollten, wird es länger dauern und teurer werden.

 

Herr Ruhe, was sagen Sie zum Beschaffungswesen der Bundeswehr?

Claus Ruhe Madsen: Weitere Verzögerungen können wir nicht hinnehmen. Die Bundeswehr und unsere Bündnispartner müssten schnellstmöglich ausgerüstet werden, um Verteidigungsbereitschaft herzustellen. Verzögerungen gefährden einerseits die Sicherheitslage Europas und lassen die wirtschaftlichen Möglichkeiten ungenutzt. Um Verbesserungen zu erreichen, müssen auch die vergaberechtlichen Vorschriften auf den Prüfstand.

 

Wie stark betroffen ist die Rüstung von gestörten Lieferketten?

Dr. Stefan Stenzel: Wegen der geringen Stückzahlen, die wir bereitstellen können, gibt es regelmäßig Herausforderungen. Die Lieferfristen werden länger. Wenn Sie bei der Leistungselektronik für den Schützenpanzer Puma ein bestimmtes elektronisches Bauteil nicht bekommen, aber 99 Prozent aller anderen, dann können Sie das Teil nicht fertigstellen. Nicht alle Materialien, die wir einkaufen, kann man so leicht ersetzen. Aber wir sind bereit.

 

Claus Ruhe Madsen: Ich höre in vielen Unternehmen im Land, in ganz unterschiedlichen Branchen übrigens, dass sie in Folge der Pandemie unter gestörten Lieferketten leiden. Wir hoffen, dass sich die Lage bald wieder verbessert.

 

Wie abhängig ist die Rüstung von Zulieferungen aus China?

Dr. Stefan Stenzel: Die Wehrtechnik versucht, möglichst unabhängig von Zulieferungen aus Nicht-NATO Staaten zu sein, also natürlich aus China oder Russland. Ein Beispiel aus den USA: Erst jüngst wurde die Auslieferung des Kampfflugzeuges F 35 gestoppt, weil in einem Triebwerk ein Metall entdeckt wurde, das aus China stammte. Da musste erst ein Ersatz gefunden werden. Und so bemühen wir uns, dass es in der Rüstung gar nicht erst zu Abhängigkeiten kommt. Das schaffen wir nicht nur über unseren Einkauf, sondern auch damit, dass wir in der Fertigung viele Produkte hier in Wedel selber herstellen.

 

Herr Stenzel, sind die Bestellungen bei Ihnen aus dem Ausland zuletzt gestiegen?

Dr. Stefan Stenzel: Nun, wir liefern ja viele Komponenten für die jüngste Bestellung von 54 Leopard 2-Panzern aus Norwegen, insofern sind diese gestiegen. Viele Unternehmen aus der Wehrtechnik mussten lange Zeit auf Aufträge aus dem Ausland bauen, weil die Bestellungen aus Deutschland immer weiter zurückgegangen waren. Wir liefern zum Beispiel ja auch Produkte wie die Energieversorgung für das Patriot-Luftabwehrsystem an NATO-Partner. Aber wir hoffen eben, dass es bald zu der versprochenen Zeitenwende kommt.

 

Gesetzt, die Bestellungen aus Deutschland würden laufen, wie sieht es mit den Fertigungs- Kapazitäten aus? Und wie lang ist der Vorlauf, etwa bei einem Leopard 2-Panzer, für den Vincorion auch Teile liefert?

Dr. Stefan Stenzel: Es ist nicht trivial, in einem Industrieunternehmen die Produktion gleichmäßig auszulasten. Allerdings müssen wir auch die benötigten Vorprodukte einkaufen, und diese sind eben oft auch nicht direkt verfügbar. Bei dem Leopard 2-Panzer, für den wir den Antrieb des Turms, die Stabilisierung des Geschützes und die Leistungselektronik liefern, liegt die

Ist die Instandsetzung alter Panzer ein politisches Problem?

 

Herr Stenzel, die Auffrischung alter Bestände, also die Instandsetzung, wird derzeit viel diskutiert. Wie groß ist das Volumen der Instandsetzung hier am Standort Wedel?

Stenzel: Sie müssen ja sehen, dass militärische Produkte sehr langlebig sind. Wenn Sie ein zwanzig oder dreißig Jahre altes Teil haben, können Sie das häufig noch reparieren, instand setzen oder sogar modernisieren. Das gehört bei uns mit zum Geschäft, also das „MRO-Geschäft“, was für Maintenance, Repair und Overhaul steht. An unserem Standort in Wedel arbeiten rund 120 Mitarbeiter in diesem Bereich und tragen damit zu rund 40 Prozent des Umsatzes bei, den wir in Wedel erzielen.

 

Ist die Instandsetzung alter Bestände ein technisches, wirtschaftliches oder politisches Problem?

Dr. Stefan Stenzel: Technisch ist die Instandsetzung nur in seltenen Fällen ein Problem. Aber wirtschaftlich stellt sich schon die Frage, wann es besser wäre, ein neues Teil, einen neuen Panzer oder einen neuen Generator zu bestellen. Die Neuentwicklungen sind oft zuverlässiger und auch umweltfreundlicher. Bei uns in der Branche wird viel über „Green Defence“ diskutiert, also über Antriebe für Generatoren etwa, die weniger CO2 ausstoßen. Und da wird es eben politisch: Will das Ministerium diese neuen technischen Lösungen bestellen, oder will man mit dem altbewährten noch länger arbeiten?

 

Claus Ruhe Madsen: Ich bin beeindruckt, wenn ich sehe, was für Teile die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei Vincorion warten können. Also ein technisches Problem ist das bestimmt nicht. Es ist wohl eher die Frage, ob politisch genügend Mittel für die Instandsetzung aufgewendet werden.

 

Fällt es schwer, für Rüstung zu werben?

 

Herr Madsen, die Wehrtechnik stellt einen großen Teil der Industrie in Schleswig-Holstein dar. Wie bedeutend ist dieser Industriezweig für das Bundesland insgesamt?

Claus Ruhe Madsen: Rund 30 Unternehmen hat die Wehrtechnik-Branche in Schleswig-Holstein. Ich habe erfahren, dass es direkt etwa 7.400 Beschäftigte sind, indirekt sogar cirka 20.000 Arbeitsplätze. Und wie Sie am Beispiel Vincorion sehen, hat die Branche einen bedeutenden industriellen Mittelstand. Also: Dieser Industriezweig ist sehr bedeutend für Schleswig-Holstein.

 

Es ist also ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Fällt es trotzdem schwer, hierfür zu werben?

Claus Ruhe Madsen: Ich komme ja aus Dänemark und wir haben traditionell ein etwas entspannteres Verhältnis zum Thema Sicherheit, Verteidigung und auch dieser Branche.

Wir haben verstanden, dass die Wehrtechnik wichtig ist für die Sicherheit eines Landes. In Deutschland scheint man das jetzt in Zeiten des Ukraine-Krieges auch zu verstehen. Deshalb ändert sich das Bild, das die Öffentlichkeit von dieser Branche hat.

 

Viele Universitäten haben sich verpflichtet, nur für zivile Zwecke zu forschen und auszubilden. Ist das bereits ein Problem für die Rüstung und kommt es absehbar zu einer Trendwende, etwa im Maschinenbau oder der Elektrotechnik?

Claus Ruhe Madsen: Die drei Hamburger Hochschulen haben eine „Zivilklausel“ unterschrieben, aber das trifft ja nicht auf alle Hochschulen zu. Wir haben in Schleswig-Holstein gute Forschung im wehrtechnischen Bereich, auch in der Technik. Das ist ein Thema, dass man kontrovers diskutieren kann. Aber ich denke, seit der „Zeitenwende“ dürfte auch hier ein Umdenken stattfinden.

 

Dr. Stefan Stenzel: Wir arbeiten an unseren drei Standorten auch mit den Hochschulen zusammen, wir bilden ja auch Werkstudierende aus, etwa von der Fachhochschule Wedel. Da wir selbst einige Technologien entwickeln, gibt es bei uns auch spannende Aufgaben für die Studierenden, aber auch die Absolventen und Absolventinnen. Ich bin überzeugt, dass die Zusammenarbeit von Hochschulen und Unternehmen auch aus der Wehrtechnik noch ausgebaut werden kann.

 

Vincorion Geschäftsführer Dr. Stefan Stenzel in der Produktion in Wedel mit einem Getriebe. ACHTUNG: Lizenz gültig bis 10. 5. 2026
Vincorion Geschäftsführer Dr. Stefan Stenzel in der Produktion in Wedel mit einem Getriebe.

 

Die Rolle der Banken

 

Liegt genug Eigenkapital vor, um die Fertigung auszubauen und zeigen sich Banken bei Rüstungsthemen aufgeschlossen?

Dr. Stefan Stenzel: In einem ersten Entwurf einer EU-Verordnung, der sogenannten Taxonomie, wird die Rüstungsindustrie als „nicht nachhaltig“ deklariert. Hierdurch wird Unternehmen schon heute der Zugang zu Finanzierungen und Investments erschwert.

Der russische Angriffskrieg führt diese Argumentation ad absurdum: Die Finanzierung von wehrtechnischen Unternehmen ist eine Investition in die Verteidigung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Wahrung der Demokratie und Freiheitsrechte. Die Finanzierung von Rüstungsunternehmen sollte daher zumindest bei den deutschen Kreditinstituten auch im langfristigen Eigeninteresse Priorität genießen.

 

Claus Ruhe Madsen: Es darf hier keine Stigmatisierung einer einzelnen Branche geben. Das würde die Bedeutung der Verteidigungsindustrie im Norden verkennen. Es würde aber auch den außen- und sicherheitspolitischen Interessen widersprechen. Wir führen mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau Gespräche, inwieweit so die Unternehmen unterstützt werden können.

 

Die Fachkräfte-Frage

 

Herr Madsen, Sie haben heute gehört, dass Fachkräfte fehlen. Nun sind die nicht nur im Rüstungsbereich rar, sondern fehlen an vielen Stellen. Wie kann die Politik helfen?

Claus Ruhe Madsen: Da gäbe es mehrere Möglichkeiten. Ein Vorschlag von mir, der übrigens ganz auf Freiwilligkeit setzt, zielt auf das „graue Gold“ ab, wie ich es nenne. Wir könnten mit mehr arbeitenden Senioren gegen den Fachkräftemangel ansteuern. Ich glaube, auch hier hat man einige Mitarbeiter aus dem Ruhestand für eine Zeit lang zurückholen können. Ich wünsche mir auch, dass von den Flüchtlingen aus der Ukraine mehr in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden – in Dänemark ist das schon bei der Hälfte der Fall. Die Gewinnung von Arbeits- und Fachkräften ist die größte Herausforderung für den Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren.

 

Herr Stenzel, ganz konkret an ihrem Beispiel gefragt: Wie viele Fachkräfte fehlen Ihrem Betrieb?

Dr. Stefan Stenzel: Wir schaffen es, die Positionen, die wir ausgeschrieben können, auch zu besetzen. In Wedel ist das schon schwer, an unserem Standort in Bayern, in Altenstadt, ist es noch schwieriger. Insgesamt suchen natürlich auch andere Firmen qualifizierte Arbeitnehmer. Wir wollen in diesem Jahr in etwa 70 bis 80 Stellen neu besetzen, ich hoffe, das gelingt uns als attraktiver Arbeitgeber.

 

Herr Stenzel, viele Deutsche denken angesichts des Ukraine-Kriegs nun etwas positiver über Rüstung. Spüren das Ihre Angestellten auch?

Dr. Stefan Stenzel: Das spüren unsere Angestellten und ich selbst auch. Vor einem Jahr musste ich mich bei Besuchen von Parlamentariern in Berlin noch warm anziehen – da rangierten wir ziemlich weit hinten. Heute haben nicht nur die Abgeordneten, sondern auch weite Teile der Bevölkerung verstanden, dass es für die Sicherheit unseres Landes auch unerlässlich ist, eine eigene und leistungsfähige wehrtechnische Industrie zu haben.

 

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Zum Hintergrund

Die Firma Vincorion erwirtschaftet am Standort Wedel rund 70 Prozent ihres Umsatzes im Rüstungsbereich. Zu den Produkten zählen unter anderem Waffenstabilisierung, Antriebe, Aggregate und Energiesysteme mit militärischem Zweck. Die kommen etwa bei den Panzertypen Leopard 2 und Puma zum Einsatz. Zur zivilen Sparte gehören Hebesysteme für die Luftrettung.

Vincorion ist neben Wedel an zwei weiteren Standorten in Deutschland vertreten, sowie in den USA, China, Süd Korea und Japan.

Der Betriebs- und Volkswirt Dr. Stefan Stenzel ist seit 2018 Geschäftsführer des Werks in Wedel. Dort sind rund 700 Personen beschäftigt. Der Umsatz betrug in 2021  etwa 145 Millionen Euro.

Claus Ruhe Madsen ist gebürtiger Däne. Er war zwischen 2019 und 2022 Erster Bürgermeister der Hansestadt Rostock und damit der erste Bürgermeister einer deutschen Großstadt ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Diese besitzt er seit Anfang des Jahres 2023. Im Juni 2022  wurde Madsen als Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus in die Landesregierung von Schleswig-Holstein berufen.

Auch interessant