1. August 2016
Magazin

Der Brexit ist ein Weckruf – hört ihr ihn? 

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DER HAUPTSTADTBRIEF

Der Brexit ist ein Weckruf – hört ihr ihn? 

Es ist der Ruf nach Subsidiarität: Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Entfaltung für Individuen und Nationalstaaten. So viel Selbstbestimmung wie möglich, so viel übergeordnete Europäisierung wie notwendig, darum geht es jetzt | Von David Marsh

Wieder einmal sind die Eliten mit ihrem Wunschdenken an der Wirklichkeit gescheitert. Was niemand von ihnen für möglich hielt, erwies sich nun als offenkundig: Einer Mehrheit der Bevölkerung in Großbritannien hatten Brüsseler Bürokratie, Bevormundung und Überheblichkeit längst schon die Mitgliedschaft in der EU verleidet. Das Referendum vom 23. Juni 2016 brachte es nur an den Tag. Im Bild feiern drei Brexit-Befürworterinnen am frühen Morgen des 24. Juni in Manchester das Leave-Votum. PICTURE ALLIANCE/AP IMAGES/KANAME MUTO 
Wieder einmal sind die Eliten mit ihrem Wunschdenken an der Wirklichkeit gescheitert. Was niemand von ihnen für möglich hielt, erwies sich nun als offenkundig: Einer Mehrheit der Bevölkerung in Großbritannien hatten Brüsseler Bürokratie, Bevormundung und Überheblichkeit längst schon die Mitgliedschaft in der EU verleidet. Das Referendum vom 23. Juni 2016 brachte es nur an den Tag. Im Bild feiern drei Brexit-Befürworterinnen am frühen Morgen des 24. Juni in Manchester das Leave-Votum. PICTURE ALLIANCE/AP IMAGES/KANAME MUTO 

Die Briten gelten gemeinhin als bescheiden. Wir müssten aber im Grunde ein sehr narzisstisches Volk sein. Denn eine Volksbefragung zur EU-Mitgliedschaft zu halten, mitten in einer großen Wirtschafts- und Identitätskrise der Europäischen Union, könnte als Versuch bewertet werden, uns voll in den Fokus europäischer Aufmerksamkeit zu bringen. Das ist uns leider vollkommen gelungen.

Hinter diesem melancholischen Tatbestand stehen ganz verkehrte politische Motive, welche die Geduld und die Vorstellungskraft vieler Beobachter strapazieren. Premierminister David Cameron wollte mit der Volksbefragung innenpolitischen Widerstand innerhalb seiner konservativen Partei gegenüber seiner europäischen Politik abbauen und die kriegführenden Flügel zu einer Versöhnung verleiten. Tatsächlich aber werden durch die Kampagne die innenpolitischen Risse auf blutige Weise immer mehr erweitert, international erntet Cameron statt Ruhe einen Sturm der Entrüstung.

Wir haben unter Beweis gestellt, dass zwei Seelen in der englischen Brust schlagen – die rationale, kühl kalkulierende, ökonomisch denkende Seite der britischen Psychologie und der romantische, abenteuerlustige Teil des nationalen Gehirns. In die erste Kategorie fällt die britische Fähigkeit, mit nüchterner Kraft und vor allem aufgrund wirtschaftlicher Gesichtspunkte die Chancen und Risiken eines Handelns abzuwägen. Unter die Rubrik Romantik fällt der Wunsch nach einem Befreiungsschlag, nach Souveränität, Identität und demokratischer Selbstbestimmung.

Letzten Endes haben die Befürworter eines Austritts die Oberhand gewonnen. Cameron war durch den desolaten Stand der Europäischen Union und durch die Anhäufung europäischer Krisen von der Einwanderung bis hin zur Geld- und Währungspolitik voll der Wut all derjenigen in Großbritannien ausgesetzt, die mit der jetzigen Konstruktion und vor allem mit den Kosten und den Ambitionen der Union zutiefst unzufrieden sind, die in der weiteren EU-Mitgliedschaft eine gefährliche Unterstützung der destruktiven Kraft der EU sehen – und die mit dem Austritt eine Befreiung oder Erlösung ersehnen.

Bis zur letzten Minute – auch bei der Schließung der Wahllokale um 22 Uhr am Donnerstag, dem 23. Juni 2016 – haben die Finanzmärkte, die Meinungsforscher und auch die Buchmacher an einen Sieg der Verbleib- Kampagne geglaubt. Ebenso habe ich die Meinung vertreten, dass die Brexit-Idee von einer relativ großen Mehrheit der britischen Bevölkerung abgelehnt werden würde. Ich selber dachte, dass die Ängste vor den negativen Folgen des Austritts die romantische, nach Meinung der meisten ökonomischen Experten kaum zu realisierende Sehnsucht nach einem Neustart übertreffen würden. In diesem Sinne hatte ich an dem Donnerstag mit einem Ja zu Europa votiert, eher aus negativen Gründen; denn ich fürchtete, dass durch ein britisches Nein ein gefährlicher europäischer Desintegrationsprozess eingeleitet würde, eine Prognose, die sich möglicherweise jetzt bewahrheiten wird.

Hinter dem Ergebnis des Referendums stecken nicht nur euroskeptische Gefühle, sondern auch der Frust großer Teile der britischen Wählerschaft über die schleppende Konjunkturerholung sowie der Wunsch, wegen des wahrgenommenen Abstandes zwischen der „Volksmeinung“ einerseits und Cameron und weiteren Elementen der politischen und ökonomischen „Eliten“ andererseits diesen einen Strafzettel zu verpassen. Wie man durch ähnliche Ergebnisse in anderen Ländern weiß, können Volksbefragungen zu spezifischen Themen sehr oft Anlässe zu Protestaktionen allgemeiner Art bieten – ein guter Grund dafür, von solchen Übungen in „direkter Demokratie“ nur sehr spärlich, wenn überhaupt, Gebrauch zu machen.

Es ist klar: Nach dem britischen Votum können wir nicht einfach zur Tagesordnung zurückkehren. Von der Entscheidung sind wir als Briten tangiert, aber auch alle anderen Mitgliedsländer, in erster Linie die Deutschen. Das Europa, das die Briten verlassen (eher in einigen Jahren, denn die Ausfahrt von der EU-Autobahn ist politisch-wirtschaftlich kompliziert und verfassungstechnisch ein Hindernislauf), wird ein anderes sein als das, das wir jetzt haben. Nichts wird wieder so sein, wie es bisher war.

Bei den verschiedenen Herausforderungen ist wohl die Suche nach einer Lösung für die andauernden Probleme in der Währungsunion die wichtigste und auch die schwierigste. Die Deutschen waren bisher bereits sehr großzügig – Stichwort Griechenland-Rettung –, aber sie werden diese Großzügigkeit wahrscheinlich abermals ausbauen müssen, wenn sie die Währungsunion weiterhin erhalten wollen. Ohne erhebliches Entgegenkommen vonseiten Deutschlands in seiner Rolle als Hauptgläubiger wird es nicht gehen.

Aufgrund lange andauernder sehr hoher Leistungsbilanzüberschüsse, die durch eine Unterbewertung des „deutschen Euros“ innerhalb der Währungsunion verursacht wurden, hat Deutschland ein Nettoauslandsvermögen in Höhe von 50 Prozent des deutschen Bruttosozialproduktes angehäuft. Die Deutschen werden sich damit abfinden müssen, dass durch die Streckung der Kredite an Griechenland und andere hochverschuldete Euromitgliedsländer ein großer Teil dieser Nettoauslandsanlagen nicht getilgt werden wird: Die Zurückzahlung erfolgt am Sankt-Nimmerleins-Tag.

„Wer der Meinung ist, die Währungsunion sei etwas anderes als ein wirtschaftspolitisches Desaster geworden, lebt in einer Scheinwelt.“

Die düstere Ahnung des verstorbenen deutschbritischen Soziologen Ralf Dahrendorf, der schon vor 30 Jahren annahm, der Euro werde eher zur Spaltung der EU als zur Einigung führen, ist leider Realität geworden. Wer der Meinung ist, die Währungsunion sei etwas anderes als ein wirtschaftspolitisches Desaster geworden, lebt in einer Scheinwelt. Und für diese Fehlentwicklung werden die Deutschen wahrscheinlich geradestehen müssen. Das bringt Ihnen zwar auch große politische und wirtschaftliche Errungenschaften – aber sie werden dafür bezahlen müssen.

Die deutsche Wirtschaftspolitik mit ihren Reformen war in den letzten zehn Jahren viel erfolgreicher als die der meisten anderen EU-Länder. Darauf ist man in Deutschland zu Recht stolz. Die Fähigkeit zur Einsicht, welche Implikationen das hat, und dies selbst in positive Resultate umzuwandeln, scheint hingegen bei den anderen weniger vorhanden zu sein. Mit der Folge, dass die übrigen Staaten den Deutschen zwar mit Respekt begegnen, aber auch mit einer gewissen Distanz, manchmal sogar mit einem gewissen Schaudern.

Die EU wird sich schlagartig ändern müssen. Um Sir Winston Churchill zu zitieren: „Dies ist nicht das Ende, es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs.“ Anstatt weiterhin fieberhaft Perspektiven für eine machbare Einigung zwischen unüberbrückbaren Widersprüchen zu suchen, sollte die EU sich besser auf eine Zeit größerer Änderungen einstellen. Es ist vielleicht der Anfang der Umsetzung einer richtigen Reformpolitik in der EU – dieses Mal leider ohne die Briten –, aber vielleicht stehen die großen Verwerfungen in den Strukturen und dem Zusammenhalt der Union erst noch bevor.

Die Antwort auf die offenen Fragen liegt in der Subsidiarität: Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Entfaltung – und zwar so weit es irgend geht – wieder auf das Individuum und auf die Nationalstaaten zurück zu verlagern. So viel Selbstbestimmung wie möglich, so viel übergeordnete Europäisierung wie notwendig, das muss die Leitdevise sein. Das kann mit Leben gefüllt werden – auch und besonders in den neuen Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien. Wenn Deutsche und Briten gemeinsam daran arbeiten, werden wir in einer besseren, wohlhabenderen und auch sichereren Welt zusammenleben. Der Weg dorthin wird nach dem britischen Votum allerdings noch dorniger und steiniger, als bisher gedacht.

Der Beitrag unseres Autors David Marsh basiert auf einem Vortrag, den er am 11. Juni 2016 beim Tag des deutschen Familienunternehmens hielt. Für den HAUPTSTADTBRIEF hat er ihn nach dem Brexit-Referendum vom 23. Juni aktualisiert und auf die Folgen des Votums fokussiert. Mehr zur Arbeit und zu den Zielen des Official Monetary and Financial Institutions Forum (OMFIF), dessen Managing Director er ist, unter

www.omfif.org

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