1. Juni 2016
Magazin

Die Briten brauchen einen neuen Traum 

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DER HAUPTSTADTBRIEF

Die Briten brauchen einen neuen Traum 

Die supranationale Identität, die für Kontinentaleuropa ein Gewinn ist, trotz institutioneller Mängel der EU, ist für die Briten ein Hemmschuh | Von Gisela Stuart

„Vote Leave“ – unter diesem Motto läuft die britische Kampagne pro „Brexit“, deren Vorsitzende unsere Autorin ist. PICTURE ALLIANCE/EMPICS/ANDREW MILLIGAN
„Vote Leave“ – unter diesem Motto läuft die britische Kampagne pro „Brexit“, deren Vorsitzende unsere Autorin ist. PICTURE ALLIANCE/EMPICS/ANDREW MILLIGAN

Wenn wir am 23. Juni 2016 abstimmen werden, ob das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union (EU) bleibt, wird sich dieses Referendum deutlich von dem unterscheiden, das im Juni 1975 abgehalten und in dem die Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bestätigt wurde. Dieses Mal haben sich die vier konstitutiven Teile des Vereinigten Königreichs – England, Schottland, Wales und Nordirland – sowohl innen- wie außenpolitischen Spannungen in Zusammenhang mit der Abstimmung im Juni zu stellen.

In Deutschland scheint diese Problematik verbreitet und verkürzend auf die Frage heruntergebrochen zu werden: Warum können die Briten nicht so sein wie wir? Die Antwortet lautet: Weil wir historisch und geographisch unterschiedlich geprägt sind. Als gebürtige Deutsche, die über zwei Jahrzehnte in der britischen und europäischen Politik aktiv ist, ist mir inzwischen klar, warum das so ist.

Vor 300 Jahren war England beides, See- und Kontinentalmacht. Georg I. war König von England und Kurfürst von Hannover. Der „Act of Union“, das Vereinigungsgesetz von 1707, brachte England und Schottland zusammen. Das schottische Parlament wurde aufgelöst, England und Schottland wurden ein Land. Das waren die Anfänge einer supranationalen Identität mit einem gemeinsamen Staatsvolk. Der Nationalstaat, die Herrschaft des Rechts und die Monarchie mit parlamentarischer Souveränität leisteten den Briten überwiegend gute Dienste. Es war nie in ihrem Interesse, dass eine einzige Macht den Kontinent dominierte.

Ganz anders gestaltete sich die Lage für Deutschland. Geographisch im Herzen Europas gelegen, ist es erst seit der Wiedervereinigung 1989 ein Land, in dem alle Deutschen in den Grenzen eines gemeinsamen Nationalstaats leben. Die Deutschen hatten – wie fast ganz Kontinentaleuropa – Krieg, Flüchtlingswellen, den Kollaps ihrer Währung und das Versagen des Nationalstaats erlebt, von den Mängeln der demokratischen Institutionen ganz zu schweigen. So ist es nicht erstaunlich, dass auf dem ganzen Kontinent die Suche nach einer supranationalen Identität, die all das beendete, zum gemeinsamen Anliegen wurde.

Europäisch und deutsch zu sein – das ist für die Nachkriegsgeneration existentiell. Für die Briten gilt das nicht. Britisch und europäisch zu sein ist für sie eine Wahlverwandtschaft, optional, und wenn es nicht klappt, gibt es immer noch den Rest der Welt.

Die Briten bringen grundsätzlich wenig Enthusiasmus für die EU auf. Aber die Sogkraft, die dafür sorgt, dass Menschen in Krisenzeiten zueinander drängen – wie wenig hilfreich das auch sein mag –, und die Angst vor dem Unbekannten sind ebenfalls stark. David Cameron sagte anfangs, er würde nicht zögern, sich für eine Ablehnung des Deals einzusetzen, falls das Reformpaket nicht gut genug sei. Das hat sich rasch zu Feuer-und-Schwefel-Prophezeiungen bezüglich der Konsequenzen eines Ausstiegsvotums gewandelt. War es ihm von Anfang an nicht ernst mit dem Referendum – oder schürt er bewusst Angst?

Ich werbe für den Austritt, weil ich überzeugt bin, dass wir Briten Besseres liefern können und müssen. Die EU als Institution hat die Fähigkeit verloren, einen notwendigen Wandel herbeizuführen. Sie hat zu akzeptieren, dass es hier nicht um eine Reise mit zwei Geschwindigkeiten, sondern um eine Reise zu unterschiedlichen Zielen geht. Einige Staaten haben eine gemeinsame Währung – mit der Erfordernis für tiefere politische und fi skalische Integration –, andere aber nicht. Die institutionelle Struktur der EU hat diese Unterschiede von Rechts wegen widerzuspiegeln. Ein Sonderstatus würde bedeuten, dass es immer um die Briten geht, während es um die Länder gehen sollte, die nicht zur Eurozone gehören.

Die EU muss aufhören, einen Konkurrenzkampf mit der NATO zu führen in dem Glauben, sie könne sie ersetzen. Mir fällt kein einziger wichtiger Militäreinsatz ein, den die EU ohne NATO-Mittel hätte durchführen können. Die echte Gefahr ist, dass die USA in ihrem Engagement für die europäische Verteidigung nachlassen. Die europäische Militärkapazität aber wird bislang mehr herbeigeredet, als dass sie tatsächlich erfolgreich existiert.

Die Abstimmung am 23. Juni wird – wie immer sie auch ausgehen mag – Konsequenzen haben. Eine Abstimmung mit „Ja“ für die EU bedeutet, dass eine kurzfristige Korrektur mit einem Referendum verbunden worden ist, wie es gewöhnlich nur einmal in einem Menschenleben vorkommt. Wenn dann ein britischer Premier das nächste Mal für eine britische Sonderrolle plädiert, wird er sich in aller Deutlichkeit daran erinnern lassen müssen, dass sein Volk die Vereinbarung, so wie sie ist, in demokratischer Abstimmung gebilligt hat.

Eine Abstimmung mit „Nein“ aber ist der erste Schritt in einem Entwicklungsprozess – und wir sollten begeistert sein, diesen Schritt zu gehen. Es gibt nichts zu fürchten: Die Britischen Inseln werden nicht zu den Zeiten von Schwarz-Weiß-Fernsehern, warmem Bier und Nylonlaken von Brentford zurückkehren. Wir sind weder Norwegen noch Schweden – unser Wettbewerbsvorteil basiert auf Innovation und besseren Produkten. Und wer eine anständige soziale Sicherung und den Mindestlohn haben will, braucht nur für eine Labour-Regierung zu stimmen.

Die britische Labour Party, meine Partei, scheint ihre radikalen Wurzeln irgendwo verlegt zu haben. Wir gehen nicht auf die Barrikaden, nur um den Status quo aufrechtzuerhalten, um die Interessen großer Konzerne zu vertreten und den Schaden, der am Sozialgefüge von Ländern wie Griechenland angerichtet wird, zu ignorieren. Wir haben keine Angst vor der Zukunft. Wir möchten, dass die Welt ein besserer Ort wird. Ich lehne den erdrückenden Konsens des Establishments, der quer durch die politischen Parteien geht, ab. Die EU hat ihren Traum, Krieg zwischen Frankreich und Deutschland zu verhindern, wahr gemacht. Sie braucht jetzt einen neuen Traum. Den braucht auch das Vereinigte Königreich. Deshalb stimme ich für den Ausstieg.

Aktuelles von und über unsere Autorin Gisela Stuart und ihr Engagement für „Vote Leave“ ist über ihren Twitter-Account zu verfolgen:
www.twitter.com/GiselaStuart
Mehr zu „Vote Leave“ findet sich auf der Website der Kampagne (auf der fortlaufend aktualisiert die Beiträge in englischen Pfund angezeigt werden, die das Vereinigte Königreich an die EU zahlt):www.voteleavetakecontrol.org

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