1. Juni 2016
Magazin

Die Briten fahren besser mit der EU

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DER HAUPTSTADTBRIEF

Die Briten fahren besser mit der EU

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat so viele Vorteile für die Briten, dass sie schlecht beraten wären, die Union zu verlassen | Von Neil Carmichael

Ein Herz und zwei Seelen, so innig verbunden soll das Vereinigte Königreich in der EU bleiben. Das rät die Conservative Group gegen den „Brexit“, deren Vorsitzender unser Autor ist. 
Ein Herz und zwei Seelen, so innig verbunden soll das Vereinigte Königreich in der EU bleiben. Das rät die Conservative Group gegen den „Brexit“, deren Vorsitzender unser Autor ist. 

In den vier Jahrzehnten, seitdem wir durch unseren Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die jetzt die Europäische Union (EU) ist, zu einem Vollmitglied der europäischen Familie geworden sind, haben wir diese Mitgliedschaft zu einem außerordentlichen Erfolg gemacht. Wir haben eine führende Rolle gespielt – um nicht zu sagen die führende Rolle – bei der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes in den 1980er- und 1990er-Jahren, und wir haben noch immer eine Vorreiterrolle inne. Die britische ist nun die fünftgrößte Wirtschaft weltweit, nicht zuletzt dank der Jahrzehnte des Friedens und des Wohlstands in Europa – und aufgrund des freien Zugangs zum größten Markt der Welt, den unsere Unternehmen genießen.

Unsere Mitgliedschaft in der EU ist eine der größten Erfolgsgeschichten der Moderne. Und unsere Mitgliedschaft in der EU (und vorher in der EWG) war nie nur eine Angelegenheit von Wirtschaft und Handel. Niemand hat sie je nur dafür gehalten. Wenn die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs im Referendum für oder gegen den Verbleib in der EU abstimmt, wird nichts weniger als unsere Stellung in der Welt in der Waagschale liegen – und ebenso wird unsere wirtschaftliche Sicherheit auf dem Spiel stehen. Niemand kann eindeutig voraussagen, was mit unserer Wirtschaft geschähe, wenn wir die EU verlassen würden – aber wir können die auf der Hand liegenden Risiken einschätzen, von denen einige potentiell hochgefährlich sind.

Hier ist besonders die Größenordnung unseres Warenaustauschs mit dem Rest der EU hervorzuheben, der sich 2014 auf 230 Milliarden Pfund Sterling (GBP) beim Export von Waren und Dienstleistungen (45 Prozent aller Exporte) und auf 289 Milliarden GBP beim Import belief (53 Prozent aller Importe). Der Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt ist mit der britischen Wirtschaft fest verdrahtet, rund 3 Millionen britische Arbeitsplätze stehen mit unserem Handel innerhalb der EU in Verbindung.

2014 hatte Großbritannien einen Außenhandelsüberschuss von 17,1 Milliarden GBP mit der EU im Bereich der Dienstleistungen, 16,6 Milliarden GBP davon bei den Finanzdienstleistungen, die 25 Prozent des britischen Dienstleistungs-Exports in die EU ausmachten, mit einem Umfang von 20,2 Milliarden GBP im Jahr 2014. Bei einem „Brexit“ würden unsere Finanzdienstleistungs-Unternehmen den „Pass“ abgeben müssen, der ihnen freie Betätigung innerhalb der EU erlaubt.

Befürworter des „Brexit“ sagen: Nun gut – aber keiner braucht ein Vollmitglied der EU zu sein, um Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt zu haben. Das stimmt. Die EU ähnelt jedoch einem Club, bei dem eine assoziierte Mitgliedschaft ohne Mitentscheidungsrecht unterm Strich teurer kommt als eine Vollmitgliedschaft. In Zusammenhang mit den vermeintlichen Vorteilen eines „Brexit“ sind Schlagworte zu hören wie „die Kontrolle über unsere Grenzen zurückgewinnen“ und „Milliarden an Beitragszahlungen einsparen“. Tatsache ist allerdings, dass jedes Land, das vollen Zugang zum Binnenmarkt hat, auch in den EU-Haushalt einzahlen muss – und dass jedes dieser Länder dem freien Reiseverkehr zuzustimmen hatte.

Jeder, der dem freien Reiseverkehr und den Beitragszahlungen ein Ende machen will, würde damit Großbritannien den Zugang zum Binnenmarkt verweigern – mit potentiell ruinösen wirtschaftlichen Konsequenzen. Die vielleicht bösartigste Mär ist die, wir könnten jeden Rückgang im Handel nach dem „Brexit“ dadurch ausgleichen, dass wir uns statt der EU dem Commonwealth zuwenden. Dieses Argument ergibt keinen Sinn: Die EU hindert ihre Mitgliedstaaten in keiner Weise daran, bilateral oder multilateral mit Nicht-EU-Staaten wirtschaftliche Beziehungen zu pflegen. So war etwa die britische Mitgliedschaft in der EU von absolut keinem Belang beim kürzlich beschlossenen, 9 Milliarden Pfund Sterling schweren Handelsabkommen zwischen Großbritannien und Indien.

Kurz, britische Unternehmen liefern rund 45 Prozent ihrer Exporte in die EU – und unser Handelsvolumen mit dem Commonwealth beläuft sich derzeit auf weniger als ein Viertel dessen. Folglich müsste Großbritannien, um einen Rückgang von 25 Prozent bei den EU-Exporten auszugleichen, seine Exporte in den Commonwealth verdoppeln. Und wie glaubhaft wäre das?

Die EU ist eine Zollunion mit einer gemeinsamen Handelspolitik. Seit unserem Beitritt hat sich diese Handelspolitik gewandelt – nicht zuletzt aufgrund der Führungsrolle Großbritanniens. Die EU hat ihren Horizont erweitert, weit über Handelsabkommen mit benachbarten Ländern hinaus. Die EU hat nun Freihandelsabkommen – oder ist dabei, über Freihandelsabkommen zu verhandeln – mit rund 90 Prozent der 50 Commonwealth-Länder außerhalb der EU, einschließlich jener 6 Länder, die zusammengenommen für mehr als 80 Prozent des britischen Commonwealth-Handels stehen.

Die britischen Exporte in Commonwealth-Länder steigen bereits jetzt um rund 10 Prozent jährlich – mit jüngsten Steigerungsraten (über 2 Jahre) von 33 Prozent nach Indien, je rund 30 Prozent nach Südafrika und Australien und 18 Prozent nach Kanada. Diese Zuwächse, alle in Zeiten unserer Mitgliedschaft in der EU, haben Tausende von Arbeitsplätzen in Großbritannien geschaffen oder gesichert.

Für sich allein agierend würde Großbritannien zweifellos seine eigene, unabhängige Stimme in der Welt wiedererlangen – theoretisch auch in neuen, weltweiten Wirtschaftsverhandlungen. Nur: Wer würde zuhören? Die EU jedenfalls würde nicht länger in unserem Interesse verhandeln, und es ist erschreckend, sich auch nur vorzustellen, wie schwach unsere Verhandlungsposition tatsächlich wäre gegenüber großen Industrienationen wie China – falls sie sich denn überhaupt noch mit uns an den Verhandlungstisch setzen würden.

Die EU und China sind zwei der größten Handeltreibenden weltweit. China ist inzwischen der zweite große Handelspartner der EU, nach den USA – und die EU ist für China der Handelspartner Nummer 1. Derzeit bereitet die EU – mit starker britischer Unterstützung – ein umfassendes Handelsabkommen mit China vor. Es ist von enorm hohem nationalen Interesse für uns, dass wir ein Teil dieses Prozesses bleiben, der sich stetig seiner Verwirklichung nähert.

Darüber hinaus spielen viele weitere Faktoren eine Rolle bei der Argumentation für unsere Mitgliedschaft in der EU. Ich frage meine Landsleute deshalb stets: „Brexit“? Why risk it?

Mehr über die „Conservative Group for Europe“, deren Vorsitzender unser Autor Neil Carmichael ist, findet sich in englischer Sprache auf der Website der EU-Befürworter:

www.conservativegroupforeurope.org.uk

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