31. Juli 2018
Magazin

GASTKOLUMNE – Ein Ritt auf der Rasierklinge

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MEINE MEINUNG

Ein Ritt auf der Rasierklinge

MARCUS WEINBERG. Migration und Vernunft

Die Zahl der Flüchtlinge ist stark gesunken. Das findet sich in der Debatte nur selten wieder. FOTO: BAMF
Die Zahl der Flüchtlinge ist stark gesunken. Das findet sich in der Debatte nur selten wieder. FOTO: BAMF
In der von der CSU angefeuerten Debatte um Migration ist eines auf der Strecke geblieben. Die Vernunft. Rationales Bewerten bleibt wichtig, ebenso Haltung und Werte.  

Erschöpft und teilweise deprimiert vom eigenen Auftreten haben sich viele Bundestagsabgeordnete in die Sommerferien geflüchtet. Der Streit um die „richtige“ Flüchtlingspolitik ist beigelegt. Wir haben es nochmal, vielleicht ein letztes Mal, mit einem Kompromiss geklärt. Es war jedoch ein Ritt auf der Rasierklinge.

Was bleibt, ist auch Sorge: Verlieren wir jetzt auch in Deutschland allmählich die Contenance? Nehmen auch wir Abstand von einer Kultur des anständigen Umgangs miteinander? Vergessen wir die Werte, die unsere Politik bisher geprägt haben? Das Beben im politischen Berlin in den letzten Junitagen legt diesen Eindruck nahe. Nun liegt schon nach Hannah Arendt „der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht in der Haltung begründet, mit Tatsachen so umzugehen, als handle es sich um bloße Meinungen“. Flieht die Vernunft? Wer bestimmt die Handlung? Eine zunehmende nationale Stimmung, die Realität europäischer Notwendigkeiten oder die bevorstehende Bayern-Wahl? Die CSU als stolze Partei hatte schon immer ihre Sicht der Dinge und Horst Seehofer war immer ein politischer Taktiker. Gerauft hat man sich gerne, flapsige Vergleiche und Sprüche inklusive. Aber was in Berlin in den betreffenden zwei Wochen vor sich ging, gerade wenn im Hintergrund vielleicht andere Ziele eine Rolle spielten, war irrational und gefährlich. Gefährlich?! Fast wäre die Union zerbrochen, Deutschland ins Chaos und Europa in eine Krise getaumelt. Und irrational? Auf Schopenhauers Erkenntnis, dass „erst der Verlust uns über den Wert der Dinge belehrt“ will ich auch weiterhin in Deutschland verzichten. Schließlich geht es uns so gut wie nie zuvor. Deutschland steht für Werte und Haltungen wie Humanität und Rechtsstaatlichkeit gleichermaßen. Sollte das Konstrukt eines Ausbalancierens zwischen Aufnahme und Begrenzung (wir reden übrigens von Menschen) tatsächlich zerbrechen, weil ein 63. Punkt eines Masterplans, welchen bis vor Kurzem keiner, nicht mal eine CSU-Landtagsfraktion kannte, ungeklärt war?

Wir schimpfen – zu Recht – auf die politische Kultur eines Donald Trump, der selbst befreundete Wertegemeinschaften wie die EU oder die NATO heute beschimpft und morgen wieder liebt, der die kleinen Raketenmänner dieser Welt mal vernichten und mal umarmen will. Und wir kritisieren – zu Recht – das Vorgehen eines Recep Erdogan, der die aufstrebende und sich demokratisierende Türkei zurückführt in ein zutiefst autokratisches und unfreies System.

FOTO: ROMY OBERENDER 
FOTO: ROMY OBERENDER 
Marcus Weinberg

ist seit 2005 Mitglied des Bundestages und seit 2014 Familienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 



Aber lassen wir uns nicht selbst schon anstecken von Falschmeldungen oder von bewusst erzeugten Stimmungen? Richtig ist, dass die Herausforderungen der Migrationsbewegung gelöst werden müssen, keine Frage! Und der Innenminister steht dafür in der Verantwortung, keine Frage.

Und es muss bei dieser Gesamtlösung nationale wie europäische Lösungen geben, ebenfalls keine Frage. Die Realität: Die Zahl der festgestellten illegalen Grenzübertritte in die EU hat sich seit Oktober 2015 um 95 Prozent verringert. Das hat gerade auch zu einem kontinuierlichen Rückgang der Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland geführt: Von 890.000 Asylsuchenden im Jahr 2015 über rund 280.000 Personen im Jahr 2016 auf ca. 78.000 Asylanträge in den ersten fünf Monaten dieses Jahres. Nein, ich will kein wichtiges Thema herunterspielen und ich will auch die Ängste der Menschen nicht kleinreden. Doch sind nicht auch andere Fragen in diesem Land noch von Relevanz? Pflege, Digitalisierung, Bildung, Armut?

Der „Stabilitätsanker Deutschland“ wäre vor wenigen Tagen fast an einem 63. Punkt auseinandergefallen. Sind wir denn von allen guten Geistern verlassen? Die aktuell schlechten Umfragewerte der CSU sind eine klare Botschaft! „Haltung lässt sich leichter bewahren als wiedergewinnen“, sagte schon Thomas Paine, politischer Philosoph und einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten. Gerade jetzt braucht es Überzeugungen und Werte. Gerade jetzt braucht es eine europäische Haltung, eine werteorientierte Haltung von Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit.

Bundeskanzlerin Angela Merkel steht genau dafür ein. Deshalb genießt sie in diesen stürmischen Zeiten meinen größten Respekt, auch wenn sich manche abgewandt haben. Sagen wir den radikalen Stimmungsmachern also den Kampf an.

Marcus Weinberg

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