INTERVIEW DES MONATS
„Ich sah überall Blut … “
Sagen Sie mal …
… Ralf Martin Meyer, Polizeipräsident
Nach der Ermordung seiner Eltern floh Nader Mosseni 2009 aus Afghanistan. Auf Schlepperrouten gelangte der heute 25-Jährige nach Europa. Eine Zuflucht war das Flüchtlingsdorf Sieversstücken.
Herr Mosseni, woher kommen Sie?
Ich komme aus Afghanistan und bin seit etwa sechs Jahren in Deutschland.
Warum haben Sie Ihre Heimat verlassen?
Wir lebten in einem kleinen Dorf. Meine Eltern hatten Kühe und Schafe. Es gab aber immer Streit um Wasser und Grundstücke. Meine Eltern sollten wegziehen, aber diese Möglichkeit hatten wir nicht. Wie sollten wir leben ohne unsere Tiere, ohne Haus? Einmal war ich in der Stadt, auf einem kleinen Basar, etwa zwei Stunden von unserem Haus entfernt. Als ich zurückkam, sah ich überall Blut. Mein Vater und meine Mutter, mein großer Bruder, die lagen da im Flur und im Schlafzimmer. Ich habe noch einen kleinen Bruder. Den habe ich genommen und wir sind geflüchtet.
Ihre Eltern waren tot?
Ja. Ich habe versucht, mit meinem kleinen Bruder nach Pakistan zu kommen, aber die Grenze ist schwierig, besonders für meinen Stamm, die Hazara. Die Paschtunen kommen einfacher durch, aber wenn ein Hazara dort erwischt wird, ist er tot oder landet im Gefängnis.
Was konnten Sie tun?
Es gibt Schmuggler. Bei denen haben Sie aber keine Wahl. Sie können dann auch nicht mehr nein sagen, sonst werden sie ermordet oder ausgesetzt. Ich bin also in das vordere Auto gestiegen und mein Bruder in das hintere. Ich war dann ein Jahr in Pakistan und habe meinen Bruder gesucht. Dann bin ich in den Iran gegangen, habe dort als Steinschneider gearbeitet und weiter nach meinem kleinen Bruder gesucht. Ich suche ihn bis heute.
Wie wurden Sie im Iran behandelt?
Schlecht. Die Arbeitszeit ging von 7 Uhr morgens bis 23 oder 24 Uhr. Als Ausländer darf man nicht einmal in die Stadt gehen. Manchmal kommt die Polizei auf die Baustellen und nimmt Leute einfach mit. Ich hatte einen Ausweis, eine Erlaubnis, aber die zerreißen die Papiere. Im Gefängnis kriegt man kein Wasser, nichts zu Essen, nur Schläge. Die behalten die Leute da, so lange wie sie wollen. Ich hatte Angst vor der Abschiebung nach Afghanistan, also habe ich Geld gespart. Zusammen mit zwei Kollegen wollte ich nach Griechenland, aber so einfach ist es nicht.
Hatten Sie damals schon ein Ziel?
Ich wollte nach Europa. Egal welches Land. Bei Schmugglern kann man sich nicht frei entscheiden. Man steht unter Druck. Ein Schmuggler hilft immer nur ein Stück weiter und übergibt dann an einen anderen. Man weiß nie, wo man ist, man geht zu Fuß, man steigt in irgendeinen LKW …
In der Türkei waren wir in einem LKW. 48 Stunden lang. 111 Menschen. Wir hatten kein Wasser, kein Essen, aber wir haben trotzdem durchgehalten. Von Istanbul nach Griechenland sind wir mit 18 Leuten in einem kleinen Schlauchboot gefahren. Das Boot wurde mit einem Messer angestochen, damit es tiefer im Wasser liegt und nicht zu sehen ist.
In Griechenland waren wir dann 14 Tage in einem nassen Raum. Da waren zwischen 130 und 140 Leute. Es war sehr schlecht. Stinkig. Wir mussten auf dem Boden schlafen und ich bekam große Probleme mit meinem Rücken.
Gab es dann Kontakt zu griechischen Behörden?
Ja, und da hatte ich Glück. Ich kam früher dran und bekam eine Aufenthaltserlaubnis für sechs Monate. Nach dieser Zeit musste ich Griechenland verlassen. Ich habe wieder mit Schmugglern gesprochen. Die wollten mich nach Italien oder nach Frankreich bringen. In einem LKW. Unten, unter dem Führerhaus, da waren zwei Bretter, an denen man sich festhalten konnte. Sehr gefährlich. Ich durfte nicht einschlafen, sonst wäre ich auf die Straße gefallen. Die Fahrt dauerte länger als 48 Stunden. Dann rollte der LKW von einem Schiff und fuhr los. Ich habe geklopft und geschrien und irgendwann hat der Fahrer mich bemerkt. Er hat angehalten und mich rausgezogen.
111 Menschen auf einem LKW, 48 Stunden lang …
Konnten Sie sich verständigen?
Nein. Ich habe ‚Hilfe!’ gesagt, aber in meiner Muttersprache und die hat er natürlich nicht verstanden. Er wollte mich erst schlagen, denn ich sah schlimm aus, sehr schmutzig, aber dann hat er mich gehen lassen. Dann war ich ungefähr einen Monat in Paris.
Hatten Sie dort Kontakte?
Menschen, die wie ich unterwegs sind, lernen sich kennen und versuchen zusammenzuhalten. In Paris habe ich für Araber gearbeitet und Geld verdient.
Wohin wollten Sie als nächstes?
Nicht nach Deutschland.
Warum nicht? Was wussten Sie über Deutschland?
Ich hatte gehört, dass man hier nach Afghanistan abgeschoben wird. Davor hatte ich wirklich Angst. Ich wollte nach Skandinavien. In Paris habe ich also ein Ticket gekauft nach Berlin und dort ein Ticket nach Kopenhagen. An der Grenze aber hat mich die Polizei erwischt. Die Polizisten gingen hin und her. Ich dachte, die finden ihre Plätze nicht, aber sie haben nach Leuten wie mir gesucht.
Über welchen Zeitraum reden wir bis jetzt? Zwischen Afghanistan und Berlin?
Ungefähr acht Monate.
Als die Polizei Sie aufgegegriffen hatte, besaßen Sie da irgendwelche Papiere?
Nein. Nichts. Ich wurde auf die Wache gebracht.
Wie haben die Polizisten Sie behandelt?
Ich hatte anfangs wirklich Angst, aber die haben nur mit mir gesprochen. Englisch. Ich habe nichts verstanden. Dann haben sie einen Dolmetscher ans Telefon geholt. Der hat mich gefragt, warum ich in Deutschland bin. Ich habe ihn gefragt, ob er Afghane sei und er antwortet, ja. Ich sagte: Warum fragen Sie mich dann? Wir wissen doch beide, was da los ist! Ich sagte also, ich will nach Skandinavien. Der Dolmetscher meinte, dass ich auch in Deutschland bleiben könnte, aber ich war nicht überzeugt. Die Polizei hat mich dann nach Rostock gebracht. Dann kam eine Frau und sagte, ich sollte nach Hamburg. Ich wollte aber nicht. Ich wusste nichts über Hamburg, ich wollte in Rostock bleiben.
In Rostock? Ernsthaft?
Andere Afghanen haben mir dann in Ro – stock auch gesagt, dass ich nach Hamburg sollte, aber ich wollte nicht. Eine schöne Stadt, sagten sie, groß. Irgendwann wurde dann einfach entschieden, dass ich nach Hamburg gehen sollte. Ich konnte nichts tun.
Rostock ist für viele Deutsche negativ besetzt, wegen der Brandanschläge 1992.
Davon wusste ich nichts. Ich bekam also eine Fahrkarte und musste hier in Hamburg die Erstaufnahme finden. Die haben mich in ein Zimmer mit zwei anderen gebracht. Dort war ich ungefähr zwei Wochen.
Welche Zustände herrschten dort?
Das war einerseits okay, andererseits war es für Leute wie mich am Anfang schwierig. Man musste genau pünktlich zum Essen da sein, sonst gab es nichts, egal ob man Hunger hatte oder nicht.
Da sprachen Sie noch kein Deutsch?
Nein, am zweiten Tag kam ein Dolmetscher. Ich kam dann nach Horst, zwischen Lauenburg und Boizenburg, zweieinhalb Monate und dann hierher nach Sieversstücken. Das war Glück. Ich habe hier viele nette Leute getroffen, die mir sehr geholfen haben.
Herr Mosseni, vielen Dank für das Gespräch.
Interview: tim.holzhaeuser(at)kloenschnack.de und helmut.schwalbach(at)kloenschnack.de
www.blankenese.de/runder-tisch.html