GESELLSCHAFT
Machen Kleider Leute?
Zeig’ mir, wie du aussiehst, und ich sag’ dir, wer du bist!
Der arme und schüchterne Schneiderlehrling Wenzel Strapinski sucht Arbeit. Er besitzt wenig, achtet aber auf sein Äußeres. Bei seiner Ankunft im reichen Goldach wird er aufgrund seiner Kleidung ehrenvoll begrüßt und für einen polnischen Grafen gehalten.
So weit Gottfried Keller und seine Novelle von 1874 „Kleider machen Leute“. Menschen ließen sich damals mehr noch als heute von Äußerlichkeiten und Statussymbolen blenden. Damals wie heute haben Hochstapler leichtes Spiel.
Gelegentlich wird von der Tyrannei der Mode gesprochen. Bei näherem Hinsehen entpuppt sie sich jedoch als Spiel mit Regeln, ein Zeichensystem im historischen Wandel. „Im bürgerlichen Zeitalter ist Mode weiblich geworden, Männer kommen unscheinbar im Anzug daher“, so Barbara Vinken in ihrer 2014 erschienenen Kulturgeschichte der Mode „Angezogen“.
Clint Eastwood
Schon Mickey Mouse trägt eine rote Hose. Asterix sowieso, und auch Pinocchio kommt nicht ohne sie aus. Zugestanden, diese kleine Liste ist nicht geeignet, um dem modebewussten Mann rote Beinkleider als dringend benötigte Anschaffung zu empfehlen. Und für viele deutsche Jeansträger ist die Vorstellung, eine rote Hose zu tragen, noch immer schockierend. Doch was vor einigen Jahren zunächst ganz zaghaft andeutete, drängt inzwischen immer häufiger auf die Straßen. Mann trägt rote Hose. Frau übrigens auch.
Es gibt einen weiteren Grund für die Beliebtheit roter Hosen: Denn die Liebe zur roten Hose wurzelt nicht nur in der Tradition des englischen Landadels und deren ironischer Modifikation durch die Sloanies. Der zweite Impuls stammt aus Neuengland, mithin von der amerikanischen Ostküste: Ende der fünfziger Jahre begann sich bei den Studenten in Harvard, Princeton, Yale und anderen Ivy-League-Universitäten der Preppy-Look durchzusetzen. Seitdem gehören dazu neben Button-Down-Hemden, bunten Pullovern, Cardigans, farbenfrohen Socken und den unvermeidlichen Penny Loafers auch Nantucket Reds-Hosen in einem blassen Rot, die mit zunehmendem Alter ins Zartrosa wechseln. Diese werden von „Murray’s Toggery Shop“ auf Nantucket, einer Insel dreißig Meilen südlich vor Cape Cod, produziert.
Ursprünglich gehörten solche roten Hosen zusammen mit einem blauen Blazer zum offiziellen Outfit des legendären „New York Yacht Club“, der mit dem Schoner „America“ im Jahr 1851 den ersten – später nach dem Siegerschiff benannten – America’s Cup gewann. Aus diesem Umfeld stammt wahrscheinlich auch die Legende, dass nur der jenige eine rote Hose tragen darf, der den Atlantik überquert hat – und zwar nicht an Bord eines Airbus, sondern eigenhändig per Segelschiff.
Nun ist so mancher Herr in roten Hosen manchmal nur mit dem Tuckerboot bis Schweinsand oder mit dem Halunderjet bis Helgoland gekommen.
Ein Gang durch verschiedene Stadtteile Hamburgs zeigt, wie verschieden das Stilempfinden sein kann. So wird Individualität in der Schanze hoch geschätzt. Einige Hipster wirken, als stünden sie lange vor dem Spiegel, um dann eine sorgfältig gepflegte Lässigkeit zelebrieren zu können.
In Stadtteilen wie Sternschanze schreiten Dandys über die Straße, ohne dass größere Notiz von ihnen genommen wird. Ist das nun Toleranz oder doch nur Gleichgültigkeit, weil die meisten Menschen hauptsächlich sich selbst im anderen spiegeln?
Genau das wird dem Dandy nachgesagt. Der Dandy, so Barbara Winken in ihrem Buch, „ist ein Mann, dessen Sinn und Bestimmung es ist, Kleider zu tragen. Er gilt als Zugpferd der Mode, oder um es moderner zu sagen als Trendsetter.“ In seriösen Stadtteilen wie Nienstedten oder Othmarschen sind Dandys so selten wie ein Barracuda in der Elbe.
Unsere kleine Bildergalerie an Elbvorortlern im Einzelnen: Tweedjackett, Seidenschal, Lederschuhe, Hose mit Bügelfalte, gepflegtes Oberhemd: Ein klassischer Auftritt, anglophile Attitüde und ein freundliches Wesen wird durch diesen Kleidungsstil vermittelt. Niemand wird deshalb nervös, keiner wechselt die Straßenseite.
Farbenfrohe Erinnerungen an den ersten Ibiza-Besuch wecken Mutter und Tochter Gabriele Evers und Natalie Kirstein. Gemeinsam betreiben sie die Boutique „Peace Love Unique“. Dabei legen sie besonderen Wert auf den in den 70er Jahren auf Ibiza entstandenen Kleidungsstil. Der verströmt damals wie heute gute Laune. „Die Sachen sind sehr verspielt und weiblich“, so Boutique-Inhaberin Kirstein. Kunden und Passanten finden das bei Mutter wie Tochter bestätigt.
Als das Gegenteil von verspielt und weiblich gelten Hosenanzüge für Frauen. Gern getragen von Führungskräften und Beraterinnen. Der Hosenanzug als Signal der Emanzipation, dem Drang in die Führungsetagen vorzudringen?
Nicht jeder stimmt da zu. Die Businesswelt, der Kampf um Anerkennung, so der Schriftsteller Wilhelm Genazino, „das sind antrainierte Verhaltensweisen, die nicht zu einem weiblichen Wesen passen.“ Frauen seien Opfer einer Politik, so der Büchnerpreisträger, die ihnen seit Jahren erfolgreich einredete, „dass sie einen anstrengenden Job brauchen, um sich selbst zu verwirklichen.“ Für Genazino „ein riesiger Beschiss“.
Beim Hosenanzug für die Dame wird deutlich, wie gesellschaftlicher Wandel auf die Mode durchschlägt.
Karl Lagerfeld
Ästhetik, Grazie, Anmut sind ohnehin Attribute, die in nördlichen Breiten weit seltener sind als etwa im Mittelmeerraum. Wobei Grazie weniger mit Körperfülle zu tun hat, als manche vermuten.
Nun sorgen hochhackige Schuhe für einen anderen Gang als Badelatschen. In festem Schuhwerk fühlt sich auch ein Mann anders als in Flipflops. Das weiß auch ein Modedesigner wie Stefan Eckert.
Ohnehin wird der Zusammenhang von Kleidung, Körpergefühl und Auftreten häufig unterschätzt. Wer im Smoking unterwegs ist, wird sich völllig anders fühlen als ein Jeansträger.
„Modisches Verhalten heißt Mut zum Experimentieren wie Unterwerfung unter die ästhetische Norm, Betonung der Individualität wie Nachahmung anderer, Rivalität wie das Mühen um soziale Anerkennung, sie dient der Erotik wie der Scham“, so die „Zeit“ vor vielen Jahren.
Erotik in der Mode ist in dieser Zeit ein heikles Thema. Verfechterinnen der Gender-Ideologie sind eifrig bemüht, Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu nivellieren.
Als 2011 zum großen Finale von Jean Paul Gaultiers Schau in Paris das Brautkleid auf dem Laufsteg erschien, war das mehr als der übliche Abschluss einer Haute-Couture-Show – es war eine Sensation. Denn erstmals steckte in einem solchen Brautkleid ein Mann: das Model Andrej Pejic.
Jüngere Menschen zucken bei solchen Gedanken mit den Schultern, ältere reagieren irritiert. Wäre es wirklich so schlimm, Männer und Frauen verschmölzen zu einem Wesen? Immerhin wäre es das Aus für Trophäenfrauen und parasitäre Ehepartnerinnen. Schon vor Jahren liefen vereinzelt Männer in Röcken über die Straße. Heute laufen sie in Modeschauen mit und das Publikum jubelt.
Die Theorie, dass Mode den ganzen Menschen erfasst, bekommt durch die Annäherung von Mann und Frau eine weitere Bestätigung. Mode als „soziales Totalphänomen“. Denn Mode schafft nichts aus sich selbst heraus, sondern spiegelt die Gesellschaft wider. Wenn Rollen sich verändern, wenn über die Gleichstellung von Mann und Frau, über Quoten und Väter in Elternzeit diskutiert wird, wenn Elton John und sein Lebensgefährte mithilfe einer Leihmutter ein Kind bekommen – dann entstehen neue Vorbilder.
Ältere Menschen mögen bei solchen Gedanken wehmütig an die Zeit denken, als klar definiert war, was als männlich, was als weiblich gilt.
Noch überschaubarer war die Zeit bei Gottfried Keller. In seiner Novelle „Kleider machen Leute“ siegt die Liebe, die Persönlichkeiten von Wenzel Strapinski und Nettchen, der Tochter des Amtsrates von Goldach, über das Äußere. Echte Gefühle besiegen die Standesunterschiede.
Losgelöst von der edlen Kleidung des Wenzel Strapinski.
Autor und Fotos: helmut.schwalbach(at)kloenschnack.de
Fotolia Redaktionelle Mitarbeit: Johanna Raedeke