DER HAUPTSTADTBRIEF
Mit Energie geht in der Politik manches leichter
Alles eine Frage der Energie – und der politischen Gesprächsbereitschaft. Bei der deutsch-russischen Summer School in Jekaterinburg ging es um beides | Von Stephan Kohler

Wie bereits im letzten Jahr, standen auch diesmal hauptsächlich Energiethemen auf der Tagesordnung des vierzehntägigen Treffens. Ein breites Spektrum an technischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Gesichtspunkten wurde dargestellt und diskutiert: Wie kann Energieeffizienz in verschiedenen Bereichen umgesetzt und wie können regenerative Energieträger effektiv genutzt werden? Welche Voraussetzungen sind für den Aufbau von „intelligenten“ Strom- und Energiesystemen (Smart Grid, Smart Energy) erforderlich? Auf dem Eröffnungspodium, an dem namhafte Professoren aus Deutschland und Russland teilnahmen, wurden die unterschiedlichen energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den beiden Ländern dargestellt, diskutiert und bewertet.
Einigkeit herrschte auf dem Podium darin, dass aufgrund des Klimawandels – und besonders nach den Beschlüssen der letzten UN-Klimakonferenz im Dezember 2015 in Paris – diesen Themen nicht nur in Deutschland, sondern ebenso auch in Russland eine deutlich größere Bedeutung zukommt als bisher. Beide Länder haben ambitionierte Klimaschutzziele festgelegt und sich zu ihrer Umsetzung verpflichtet. Gerade für Russland als rohstoffreiches Land, dessen Volkswirtschaft zu einem großen Teil von der Gewinnung, der Nutzung und dem Export von fossilen Energieträgern abhängt, stellt dies eine besondere Herausforderung dar.
Die Studenten hörten während der zwei Summer-School-Wochen zahlreiche Vorlesungen zu diesen Themen und konnten zudem an interessanten Besichtigungen vor Ort teilnehmen. Am Rande der Eröffnungsfeier wurde zwischen der Uni Jekaterinburg und deutschen Unternehmen mit der Unterzeichnung einer Absichtserklärung vereinbart, im Rahmen eines Pilotprojektes die Heizzentrale der Universität Jekaterinburg zu modernisieren und dort ein Smart-Grid-System aufzubauen. Dieses Pilotprojekt soll nicht nur die Effizienzpotentiale der Universität mobilisieren, sondern auch für Forschungs- und Lehrzwecke genutzt werden.
Zur Eröffnungsveranstaltung der Summer School war hoher politischer Besuch erschienen: Der deutsche und der russische Außenminister, Frank-Walter Steinmeier und Sergej Lawrow, sprachen zu den Teilnehmern und Gästen. Die beiden Außenminister nutzten das universitäre Umfeld auch für einen Meinungsaustausch über das deutsch-russische Verhältnis und die anstehenden komplexen politischen Themenbereiche. Beide Minister betonten ihre Entschlossenheit, alle Möglichkeiten und jede Chance nutzen, um sowohl den politischen wie den menschlichen Gesprächsfaden zwischen beiden Ländern nicht abreißen zu lassen.
Gerade junge Menschen komme dabei eine Schlüsselrolle zu, denn um ihre Zukunft, die sie aktiv mitzugestalten haben, geht es – darin waren sich die Minister einig. Das Erlernen der Fähigkeit zu einer differenzierten Betrachtung der Realität und die Bereitschaft, unterschiedliche, auch von den eigenen abweichende Positionen nachzuvollziehen, sind in der Welt von heute enorm wichtig. Frank- Walter Steinmeier eröffnete seine Rede deshalb mit der provokanten, wenn auch nicht im Wortsinn gemeinten Frage: „Können wir eigentlich lesen?“ Können wir anderen zuhören, effektiv miteinander kommunizieren, Signale, die andere senden, richtig interpretieren? Oder lassen wir uns nicht zu häufig von Vorurteilen und von einem Schwarz-Weiß-Blick leiten, ohne genau zuzuhören und hinzusehen?
Insgesamt erlebten die Teilnehmer einen Dialog auf Augenhöhe – mit jeweils klaren Standpunkten, aber mit dem Bemühen, Lösungswege und Möglichkeiten für die Konflikte zu finden. Den Studentinnen und Studenten wurde von den Ministern differenziert verdeutlicht, dass die Positionen und Sichtweisen unterschiedlich sind – und dass es gerade deshalb so wichtig ist, genau zuzuhören und die Nuancen zu erkennen und zu unterscheiden. Wann begannen der Ukrainekonflikt und der Krieg in der Ostukraine? Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, so die deutsche Sichtweise. Für Russland begann der Konflikt, als der Westen und die Europäische Union (EU) über den Beitritt der Ukraine in die EU und die NATO diskutierten, wodurch sich Russland bedroht fühlte.
Wer wen wann bedroht und wer sich wodurch bedroht fühlt – das ist häufig nicht rein zeitnah und rational, sondern nur unter Berücksichtigung der historischen Erfahrungen der jeweiligen Beteiligten zu verstehen. In diesem Zusammenhang verwies Außenminister Steinmeier in seiner Rede auf das auch heute noch lesenswerte Buch „Warum haben wir aufeinander geschossen?“ von Heinrich Böll und Lew Kopelew, beide Teilnehmer am Zweiten Weltkrieg. Er forderte die Studentinnen und Studenten dazu auf, den Dialog und die Verständigung zu suchen und Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen. Auch wenn die politischen Divergenzen derzeit schwer überbrückbar scheinen – es gibt zahlreiche gemeinsame Interessenfelder, auf denen derweil konstruktiv gearbeitet werden kann, und die Energiefrage ist nur eines davon.