DER HAUPTSTADTBRIEF
Nicht die Etablierten machten Berlin zur Hauptstadt
Vor 25 Jahren wurde Berlin wieder zum politischen Zentrum Deutschlands bestimmt, SPD und Union aber wären mehrheitlich lieber in Bonn geblieben | Von Hartmut Jäckel

Am 20. Juni 1991 entschied der in Bonn zusammengetretene Deutsche Bundestag mit einer knappen Mehrheit von 18 Stimmen, das eben noch durch eine Mauer zweigeteilte Berlin solle wieder rechtlich unverkürzt deutsche Hauptstadt werden, Sitz von Parlament und Regierung der seit neun Monaten durch den Beitritt der DDR vergrößerten Bundesrepublik Deutschland.
Im „Vertrag zur deutschen Einheit“, der am 31. August 1990 von den Verhandlungsführern Wolfgang Schäuble (West) und Günther Krause (Ost) unterzeichnet und wenig später von Bundestag und Volkskammer verabschiedet wurde, war auf Drängen Nordrhein-Westfalens nur ein hinhaltender Kompromiss zustande gekommen. Die Aussage in Artikel 2 „Hauptstadt Deutschlands ist Berlin“ findet sich gleich im Folgesatz als de facto unverbindlich relativiert: „Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden.“ Die Entscheidung fiel somit dem am 3. Dezember 1990 gewählten gesamtdeutschen Bundestag zu.
Zum 25. Jubiläum der Abstimmung haben sowohl die Medien als auch nicht wenige Personen des politischen Lebens an den denkwürdigen Tag erinnert und die damals getroffene Entscheidung gewürdigt. Dem Zeitzeugen fiel freilich auf: Kaum je war dabei die Rede davon, wie sich die fünf damals im Bundestag vertretenen politischen Lager denn eigentlich mehrheitlich – sei es für Bonn, sei es für Berlin – entschieden hatten.
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Als Rita Süssmuth (CDU) als Präsidentin des Hohen Hauses um 21.47 Uhr mit der Feststellung „Die Spannung ist riesengroß“ das Ergebnis der Abstimmung verkündete, endete eine fast zwölfstündige Debatte. In ihr hatten nicht weniger als 107 der 660 anwesenden Abgeordneten das Wort ergriffen. Mit Ernst und Leidenschaft und, gelegentlich, einer kräftigen Prise Rechthaberei plädierten die Rednerinnen und Redner im bunten Wechsel für den einen oder den anderen der Standorte. Überdies machten von der Bundesratsbank aus die Regierungschefs der beiden betroffenen Länder – Johannes Rau (SPD) für Nordrhein-Westfalen und Eberhard Diepgen (CDU) für Berlin – von ihrem Rederecht Gebrauch. Jeder wusste, was sie sagen, wie sie sich positionieren würden. Bei den Redebeiträgen der Abgeordneten war das durchaus nicht immer der Fall.
Diese 34. Sitzung der 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages war ohne Zweifel eine der nicht eben zahlreichen parlamentarischen Sternstunden – und das nicht in erster Linie wegen der brisanten, weithin als Konflikt zwischen Kontinuität und Neuanfang empfundenen Thematik und der bis zuletzt für hohe Nervosität sorgenden Ungewissheit über den Ausgang der Abstimmung. Nein, historisch und denkwürdig bleibt die Marathonsitzung vor allem deshalb, weil den Mitgliedern des Bundestags hier eine Entscheidung anvertraut und abverlangt wurde, die – wie sonst nur bei einem Appell an das höchstpersönliche Gewissen – in uneingeschränkter Freiheit zu treffen war.
Den Ort der Bundeshauptstadt zu bestimmen und dabei von jeglicher Fraktionsbindung frei zu sein – das war schon ungewöhnlich genug. Wer sich bewusst machte, dass es hier nicht nur um lokale oder regionale Interessen, um Arbeitsplatzgefährdungen und außerordentliche Kosten ging, sondern vor allem anderen um eine deutschlandpolitische Richtungsentscheidung, um ein Signal im eben beginnenden Einigungsprozess, der mochte das Privileg dieser Freiheit durchaus auch als Last empfinden. Die Stimmabgabe erfolgte namentlich. Folglich ist das Votum jeder und jedes Abgeordneten in diesem – wie eine Rednerin sagte – „Glaubensstreit zwischen Berlin und Bonn“ über den Tag hinaus bekannt und abrufbar.
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Werfen wir zunächst einen Blick auf die 107 protokollierten, jeweils auf fünf Minuten begrenzten Redebeiträge. 50 von ihnen sprachen sich für Bonn, 57 für Berlin aus. Dass unter den Fürsprechern Berlins an Zahl und Eloquenz die großen Namen dominierten, ist oft vermerkt und rühmend gewürdigt worden: Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel, klug flankiert von Gernot Erler und Jürgen Schmude von der SPD und Helmut Kohl, zu diesem Zeitpunkt Bundeskanzler seit fast neun Jahren, Lothar de Maizière, der letzte Regierungschef der DDR, und – last but not least – Wolfgang Schäuble von der Union haben vermutlich verhindert, dass die starke Bonn-Phalanx in ihren Reihen nicht noch deutlicher die Oberhand behielt.
Die nur als parlamentarische „Gruppe“ anerkannte PDS/Linke Liste kam dementsprechend nur mit 5 Vertretern zu Wort. Und doch war eben diese Gruppe als Mehrheitsbeschaffer unverzichtbar. 15 ihrer anwesenden 16 Mitglieder (eine Abgeordnete fehlte) stimmten – aus nicht nur geographisch naheliegenden Gründen – für Berlin. Beim Bündnis 90/Grüne betrug die Quote 6 zu 2 für Berlin, bei der FDP 53 zu 26. Keine der großen Fraktionen hielt damit Schritt, im Gegenteil. Die von Willy Brandt eben noch eindringlich beschworenen Abgeordneten der SPD stimmten mehrheitlich (126 zu 109) ebenso gegen Berlin wie die der CDU/CSU (164 zu 152).
Dass Berlin für die gerade gegründete Bundesrepublik „in Zukunft wieder ihre Hauptstadt werden soll“, hatte der Deutsche Bundestag erstmals bereits am 30. September 1949 beschlossen. Wenige Wochen später, am 3. November 1949, war dieser Beschluss nochmals bekräftig worden: „Die leitenden Bundesorgane verlegen ihren Sitz in die Hauptstadt Deutschlands, Berlin, sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind.“
Was lag da näher, was war zwingender, als nun – da sie endlich umsetzbar waren – zu diesen und den vielen weiteren in der Zwischenzeit abgelegten Pro-Berlin-Bekenntnissen zu stehen? Der Hinweis auf einen drohenden und schwerwiegenden Vertrauensverlust war denn auch in fast jeder Wortmeldung pro Berlin enthalten. Wer für Bonn sprach, machte nicht ohne eine gewisse Rabulistik geltend, die Ausgangslage habe sich nach so langer Zeit eben geändert: Alle Welt sehe nun in Bonn den Garanten für die demokratische Erneuerung Deutschlands.
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Wolfgang Schäuble hatte in seinem entschiedenen Berlin-Plädoyer übrigens auch jenes ebenso durchsichtige wie zweifelhafte Motiv angesprochen, das vermutlich für nicht wenige Abgeordnete Anlass war, die blaue Stimmkarte für Bonn zu ziehen. Schäuble: „Mit allem Respekt darf ich einmal sagen: Jeder von uns – ich wohne ja weder in Bonn noch in Berlin, ich wohne auch nicht in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen – ist nicht nur Abgeordneter seines Wahlkreises und seines Landes, sondern wir sind Abgeordnete für das gesamte deutsche Volk.“
Eine persönliche Erinnerung mag diese Nachlese beschließen. Ich flog am Morgen des 20. Juni 1991 von Berlin-Tegel nach Köln-Bonn, um meinen Freund Peter Glotz, ehemals Berliner Wissenschaftssenator, in letzter Stunde davon abzubringen, für Bonn zu votieren. Im Erich-Ollenhauer-Haus, umgangssprachlich „Baracke“ genannt, traf ich ihn, der ziemlich weit vorn auf der Rednerliste stand, nicht mehr an – wohl aber Hans-Ulrich Klose, ehemals Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, seit 1987 Schatzmeister der SPD. Während wir in seinem Büro das hin und her wogende Redegefecht am Fernseher verfolgten, ließ mein Gastgeber mich wissen, auch er sei auf der Seite Bonns – aus historisch fundierter Verantwortung für die deutsche Demokratie. Mit Berlin verbinde sich für ihn noch immer das Bild politischer Irrwege und monströser Untaten.
Kein Einwand konnte ihn umstimmen. Als das Ende der Debatte nahte, eilte der in Breslau geborene Hamburger durch das regennasse Bonn zur namentlichen Stimmabgabe in das alte Wasserwerk, den Ort der Entscheidung. Ein paar Tage später war es im Bundestagsprotokoll schwarz auf weiß nachzulesen: Beide, Peter Glotz und Hans-Ulrich Klose, haben mit 124 weiteren sozialdemokratischen Abgeordneten Berlin als Hauptstadt nicht haben wollen.