GESCHICHTE
Blowin’ in the wind
50 JAHRE – DIE ACHTUNDSECHZIGER
Das Thema „Die 68er“ besteht zwangsläufig aus Glatteis, Herausforderung, Mißverständnis und Überinterpretation. Die „Mitglieder“ dieser Ära sind gewürdigt oder belächelt, vergessene Krieger, Körnerfresser und Nostalgiker, die neuen „Ewiggestrigen“ oder Wahrheitspächter.
Der „Spiegel“ schrieb 2007: „Die 68er“ gab es schon 1968 nicht, und in den Jahrzehnten danach gab es sie – als geschlossene Bewegung – immer weniger; sie waren eine heterogene Masse mit unterschiedlichen Auffassungen: gleichzeitig gewaltfrei, gewaltbereit; pazifistisch, bellizistisch; marktgläubig, plangläubig; autoritär, antiautoritär; chauvinistisch, feministisch; maoistisch, trotzkistisch, stalinistisch, spontaneistisch, sozialdemokratisch, liberal; gläubig, ungläubig; antikommunistisch, prokommunistisch; karrieregeil, hedonistisch; kinderfeindlich, kinderfreundlich; bürgerlich, kleinbürgerlich, antibürgerlich; konsumfixiert, konsumfeindlich; staatsgläubig, anarchistisch; sie waren alles und nichts, und das gleichzeitig.
Die auf jeden Fall bemerkenswerte Ära eines gesellschaftlichen Wandels füllt heute Fach- und Sachbücher, Biographien, Rückblicke, Ansichten und Interpretationen. Das Aufeinanderprallen der Generationen, der neue Lebensstil, die Mode, die Musik und last but not least die kritische Ablehnung einer festgefahrenen Weltpolitik, die ihre fragwürdigen Werte in Vietnam „verteidigen“ wollte, war auch in den Elbvororten spürbar.
Politisch mehr oder weniger engagiert war indes die Teilnahme an Anti-Springer-Demos Pflicht. Der darüber hinaus politisch Bewusste trat irgendeiner K-Gruppe bei und skandierte bei der Osterdemo 1968 an der Kaiser-Wilhelm-Straße „Ho- Ho-Ho-Chi-Minh!“.
Der romantisierte Sympathisant gestattete sich verstohlen die Frage: „Wer ist eigentlich dieser Ho-Chi-Minh?“
Den Sound zur Demo lieferten Jimi Hendrix mit seinem „Hey Joe“ (1966) oder die Rolling Stones, passenderweise mit „Satisfaction“ (1965).
Die herrschende Gesellschaft störte sich an allem, was die neue Jugend hervorbrachte. Doch das galt auch um – gekehrt für das, was „die Alten“ mitbrachten. Aus dem Mief der Adenauer-Ära mit Alt-Nazis als Würden- und Amtsträger und einer Alpenveilchen- Spießbürgerlichkeit erwuchs das neue Selbstbewusstsein einer Generation mit freiheitlichen Ansprüchen. Lange Haare, antiautoritäre Erziehung, Widerspruch, Protest, Verweigerung standen dem kleinbürgerlichen Ordnungswahn plötzlich selbstbewusst gegenüber. Das deutsche „Jawoll“ war vorbei. Das Leben wurde bunter und lustiger. Flowerpower irritierte die etablierte Welt.
Wer etwas auf sich hielt, folgte den Anordnungen der Mode. Der Individualismuswahn späterer Zeiten hielt sich noch in Grenzen, man trug, was angesagt war. Der olivgrüne US-Parka (ein Muss), Twiggys Minirock (Pflicht), die Schlaghose (zwingend), die Flokatiweste (für den bewussten „Gammler“), Beatle-Stiefel und -Jacke mit Stehkragen (aus Abgrenzungsgründen notwendig) oder der lässig getragene Übergangsmantel mit schwarzem Rollkragenpullover und Camus’ „Mythos“ („unauffällig“ in der Manteltasche) waren so wichtig wie der erste Joint. Die Diktatur des Zeitgeistes schlug lückenlos zu.
Die 1960er Jahre hatten für die Elbvororte einiges zu bieten – zumindest, was die Tanz- und Schwoofszene dieser Tage betrifft. Mehr als ein halbes Dutzend einschlägiger Tanz- und Beatschuppen (das Wort „Discothek“ gab’s noch nicht) waren damals gut besucht und hatten am Wochenende volles Haus. Manche Ehe fand ihren Anfang im „Chic Chic“ an der Otto-Ernst-Straße in Othmarschen oder im „Skokian“ an der Blankeneser Hauptstraße (später Inneneinrichter Matschke). Die Musik beherrschte alles und bahnte sich ihren Weg.
Am 18. August 1960 stand auf der Großen Freiheit in einer Musikkneipe mit dem Namen Indra eine Band aus Liverpool auf dem Programm, die „Fab Four“. Was heute als Stunde null der Kulturrevolution der westlichen Hemisphäre gilt, war nichts anderes als der erste Auftritt der Beatles.
Die Musik dieser Tage - Beat und Rock schlagen mit ungekannter Wucht zu
In Othmarschen drehte sich im Chic Chic im violett-blauen Licht eine Silberkugel (später Discokugel genannt), die funkelnde Sterne auf die Tanzfläche warf. Hier herrschte Krawattenzwang. Wer keine hatte, konnte am Eingang für 2 Mark eine erwerben (von dem, der gerade wieder ging). „Glad All Over“ der Gruppe Dave Clark Five hammert aus den Boxen, die Tanzfläche ist voll und die Nyltesthemden der Jungs leuchten kreischend im Schwarzlicht. Der Getränkebon (2,50 Mark) reicht für ein Cola-Rum oder zwei Bier. Die Musicbox dröhnt ununterbrochen, 20 Pfenning pro Stück. „Wild Thing“ von den Troggs kommt. Es folgen „Natalie“ von Gilbert Becauds und „Eve Of Destruction“ von Barry McGuire. Die Box hat nie Pause.
An der Blankeneser Hauptstraße heißt der Twistschuppen „Skokian“, ist im ehemalgien Café Fernblick untergebracht und wechselte später noch einmal den Name in „Blue Bird“, weil der neue Begriff „Discothek“ dies offenbar erforderte. Die Musibox kam raus, der Plattenaufleger übernahm den Job. In Iserbrook dröhnte im „Café Ruppert“ (heute Haspa) die Box zum Pflichtgetränk Cola-Rum.
In Rissen öffnete der „Country Club“ mit Kaminfeuer und dicken Sesseln – die Disco für die älteren Jahrgänge, die hier problemlos den Übergang vom Schützenfest zum Nightlife mit „Urwaldmusik“ fanden. Auch Blankenese bekam einen Nachtclub mit Kaminfeuer – den „Park Lane Club“ (heute Hotel Baurs Park). Tanzstundenfans zeigten hier der Jugend, was eine Harke ist.
Nienstedtens Stunde schlug 1967: Das „Pony“ eröffnete (heute Restaurant „Marktplatz“), machte auf gehoben und führte zu Spitzenzeiten schon mal die „Gesichtskontrolle“ durch. Mit der beginnnenden Ära des Soul („Mustang Sally“, „Knock On Wood“) begaben sich besonders enthusiastische Tänzerinnen auf den Kaminsims. Spätere Kritiker wähnten hier die „Wiege der Popper“, die mittlerweile auch schon wieder in der Bedeutungslosigkeit versunken sind.
Kerzenschein und heiße Flirts gab es dann ab 1969 im Gebälk der Flottbeker Mühle an der Osdorfer Landstraße. Rissen schloss das „Elektra-Kino“, es folgte die für damalige Verhältnisse Großdisco „Drop In“ (später „El Greco“, noch später „Concorde“) mit sensationeller Musikanlage.
Es war viel los, in den wilden Sechzigern und Siebzigern. Von den Einrichtungen dieser Zeit ist nichts geblieben. Bill Haley, die Beatles, die Rolling Stones, die Beach Boys und die Ernst-Merck-Halle
Den ansonsten ruhigen Hamburger Westen galt dennoch die gehobene Aufmerksamkeit. Hartnäckig hielt sich auch ein Gerücht, nach dem Beatle George Harrison in Blankenese eine Freundin hatte und nach Auftritten mit der S-Bahn nach Westen rauschte. Inkognito soll er das auch 1966 als Superstar nach dem Auftritt der Beatles in der Hamburger Ernst-Merck-Halle getan haben.
Die Ernst-Merck-Halle war so etwas wie Hamburgs Allzweckwaffe für Veranstaltungen aller Art. Mit dem Auftritt eines gewissen Bill Haley im Oktober 1958 verlor die Halle ihre Unschuld. Artig auf Stühlen zu sitzen ist nicht Sache von „Rock Around The Clock“. Erst tanzten einige spontan in den Gängen, später flogen Stühle. Die Stimmung kochte. Es dauerte, bis man auf die Stühle verzichtete.
Hier spielten die Giganten der 60er Jahre: die Rolling Stones (September 1965), die Beatles (Juni 1966) und die Beach Boys (Oktober 1966). Zu den Beatles ging man, um sie zu sehen; zu den Stones wegen der Randale und zu den Beach Boys wegen der Musik.
Auf dem heimischen Plattenteller drehten sich bei Kerzenschein die Protestsongs der Liedermacher: Franz-Josef Degenhardt, Reinhard Mey, Joan Baez, Donovan und natürlich Bob Dylan. Der Kanadier Leonard Cohen stellte am 4. Mai 1970 seinen Song „Suzanne“ in der Laeiszhalle vor – zu Hause bei Tee und Tropfkerze ein Muss!
Das Woodstock-Festival und der Film „Easy Rider“ (beide 1969) gaben der kulturell-musikalischen Entwicklung den Rest. Marschmusik, Schlager und sogar Elvis waren so was von out …
Die Menschen der Zeit - Klassische Positionen brechen auf, die Gegensätze sind grenzenlos
Medialer Übervater der 68er ist ohne Zweifel Che Guevara, von dessen Vorstellungen aber auch bei den Zeitgenossen nicht viel hängengeblieben ist: „Wenn du die Bücher von Che Guevara liest über den neuen Menschen, kommt dir das Grausen!“ (Daniel Cohn-Bendit, seinerzeit deutsch-französischer Studentenführer, bis 2014 EU-Abgeordneter der Grünen).
Väter der Studentenführer um Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit waren die Philosophen Jean-Paul Sartre und Theodor W. Adorno.
Sinnigerweise fand sich fatales Gedankengut bei der RAF (1970 von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler, Ulrike Meinhof gegründet) wieder. Blankeneser Wurzeln verweisen auf RAF-Prominenz wie Ulrike Meinhof, Susanne Albrecht und Angela Luther. Auch von Gudrun Ensslins Verlobungsfeier in der Caprivistraße wird berichtet.
Am 19. April 1967 starb der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Die Ära der Nachkriegszeit war 22 Jahre nach Kriegsende abgeschlossen. Die CDU behielt die Macht und startete mit Ludwig Erhardt als Nachfolger das Wirtschaftswunderland Deutschland.
Über allem schwebte das Drama des Vietnamkriegs der Amerikaner (1960 bis 1975), der viele junge Menschen überhaupt erst politisierte. Die Zahl der Wehrdienstverweigerer stieg deutlich an und wurde zum Politikum. Unzählige Protestsongs untermalten die Bilder aus Südostasien. Das Woodstock-Festival (1969) stand im Zeichen der Anti-Vietnamkrieg-Generation.
Linksideologische Argumentationsprobleme ergaben sich 1968. Der „Prager Frühling“ unter Alexander Dubcek verschaffte der damaligen Tschechoslowakei einen freiheitlicheren Weg und wagte eine Abwendung vom sowjetischen Weg. Ein Unding für die Betonköpfe der UdSSR und der DDR. Gemeinsam ließen sie die Panzer nach Prag rollen und unterdrückten für die nächsten 30 Jahre das Volk.
Die Zeit der „68er“ ist längst Geschichte, doch bei aller Kritik und Merkwürdigkeit – sie waren auch eine Befreiung. Viele Pamphlete dieser Jahre lesen sich heute schmunzelnd wie ein kabarettistisches Papier. Die Realität und die Zeit haben zugeschlagen und einiges relativiert.
Aber notwendig waren sie schon – die 68er …
Autor: klaus.schuemann(at)kloenschnack.de