1. September 2015
Magazin

Die S-Bahn – Spiegel der Gesellschaft 

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GESELLSCHAFT 

Die S-Bahn – Spiegel der Gesellschaft 

Verkehr und Soziologie 

Sie bewegt sich zwischen Villa und Hochhaus, zwischen Elbufer und Autobahn, verbindet und entzweit, lehrt und nervt: Die Bahn

Sie kann beides sein: Reizthema oder akzeptierte Notwendigkeit. Für manche ist sie die ideologisch aufgeladene Antwort auf ökologische Fragen, für andere eine unappetitliche Zwangsveranstaltung. Was aber sagt der Alltagsbetrieb in S- und U-Bahnen über die Hamburger Gesellschaft?

Eine Beobachtung von Tim Holzhäuser

Ein typischer Anblick: Smartphones, Tablets und Reader haben die Tageszeitung verdrängt FOTO:©BERC-FOTOLIA.COM
Ein typischer Anblick: Smartphones, Tablets und Reader haben die Tageszeitung verdrängt FOTO:©BERC-FOTOLIA.COM
Es gibt körperliche Reaktionen, die lassen sich nicht abstellen. Autosuggestion, Training, Chupze – alles völlig hoffnungslos, wenn es zum Beispiel darum geht, in der S-Bahn bei einer Fahrkartenkontrolle nicht in Schweiß zu geraten. Sie können seit zehn Jahren mit einer Abo-Karte für den Gesamtbereich (damit kommen Sie bis Stade!) zwischen Blankenese und Sternschanze unterwegs sein und trotzdem: Wenn ein Kontrolleur einsteigt, dann gibt es eine kleine Ladung Adrenalin. Auch die Tatsache, dass Sie Ihre vergessene Karte nachreichen könnten, verhindert den Angstschweiß nicht, denn: Es ist die Peinlichkeit, die uns schreckt. Die S-Bahn, das wird in diesem Moment klar, ist ein Raum von überwältigender Öffentlichkeit. Wenn Sie einem Zuwanderer verdeutlichen wollen, dass auch in Deutschland eine ausgeprägte Schamkultur herrscht, dann setzen Sie ihn ohne Ticket in die S31.

Vor diesem Hintergrund wird aus einem schnöden Verkehrsmittel ein soziologisches Spielfeld. Meinungsbildung funktioniert eben nicht mit der „Bild“, sondern mit S- und U-Bahn. Der Senior, Autofahrer, der ausnahmsweise die S-Bahn besteigt – Spenglers „Untergang des Abendlandes“ unterm Arm –, wird seine Familie anach auf Wochen mit Lamento über die Entsolidarisierung der Massen nerven. Er schimpft: „Die Leute gucken nur noch auf ihre Smartphones!“

Echte Veränderungen in Mentalität und Gewohnheiten schlagen sich hingegen unübersehbar im S-Bahn-Betrieb nieder.

Der erfahrene S-Bahn-Nutzer denkt dann natürlich: Zum Glück. Nicht auszudenken, wenn in einem Wagen 208 Fahrgäste versuchen würden, simultan in der „Zeit“ zu blättern. Regelmäßig S-Bahn fahrende Senioren berichten übrigens, dass sich früher auch kein Schwein unterhalten hätte. Norddeutschland war 1955 genauso Norddeutschland wie 2015.

Echte Veränderungen in Mentalität und Gewohnheiten schlagen sich hingegen unübersehbar im S-Bahn-Betrieb nieder. Die Klassengesellschaft prägte die Wagen bis 2000, die Rauchergesellschaft bis 1973 und die versoffene Gesellschaft bis 2014.

Wer täglich in der S-Bahn sitzt, bleibt gesellschaftlich daher auf der Höhe. Ein Zug der S1 etwa fasst ohne Weiteres 1.000 Fahrgäste und er fährt einmal quer durch ein Gebiet, das von über zwei Millionen Menschen bewohnt wird. Ein besseres Abbild städtischer Demografie wird sich schwer finden lassen. Die Flüchtlinge etwa, von denen viele Autofahrer nur in der Zeitung lesen, werden hier sichtbar. Ebenso ist es mit Modeerscheinungen. Als im Sommer 2013 an der Station Sternschanze ein H & M-Plakat empfahl, eine Jeans in ungeschnürte Holzfällerstiefel zu stopfen und das Ganze mit einer aparten Wollmütze zu kombinieren, dauerte es keine zwei Wochen, bis sich das Straßenbild nachdrücklich verändert hatte. Selbst sperrige soziologische Titel lassen sich in der S-Bahn mühelos mit Leben füllen. Nehmen wir diesen: „Partizipation von Wohnungslosen an Ritualen der Leistungsgesellschaft“.

Bis vor etwa zwei Jahren galt es unter Obdachlosen quasi als Standard zwischen Dammtor und Hauptbahnhof die Lebensgeschichte in Kurzfassung zu präsentieren. Eine Legitimation zwischen Schuld und Sühne, 2 Minuten 53 Sekunden lang, damit noch 20 Sekunden zum Kleingeldsammeln blieben.

Heute? Stille. Die Bettler sind verstummt, streckenweise völlig verschwunden. Woran liegt es? Eine Frage, die sich der Autofahrer nicht stellt.

Noch ein Beispiel. Denken wir an die Musiker in S- und U-Bahnen. Vor wenigen Monaten noch beerhte ein Quartett die S1 mit dem Getöse einer mexikanischen Hochzeitskapelle auf Terpentinersatz. Unfassbar brutal. Münzen als Prämie dafür, dass die Saubande endlich den Rand hielt!

Heute? Stille. Auch in den Wagen anderer Linien scheinen die Musiker selten geworden zu sein. Niemand schrammelt, klimpert, plärrt. Warum nicht? Was machen die Musikanten jetzt? Interessiert den Autofahrer nicht. Der liest den Grund nach drei Jahren in der Zeitung und staunt, mal wieder.

Oder nehmen wir die Verrückten. Noch vor wenigen Jahren fand sich in jedem Wagen zuverlässig ein Irrer – leicht erkennbar durch die Bereitschaft, mit Fremden eine Konversation zu beginnen, oder durch laute Selbstgespräche. Heute rollen ganze Züge ohne einen erkennbar Ausgeklinkten durch Hamburg. Woran liegt das? Bessere Versorgung oder schlicht an dem kleinen Mikrofon im Headsetkabel, das den irren Monolog tarnt?

Szenen, wie sie in der ruhigeren Linie S1 und S11 täglich vorkommen. Die Elbvororte haben Glück: Der Betrieb der innerstädtischen S-Bahn-Strecken ist ungleich hektischer. FOTO:©DANR13-FOTOLIA.COM, FOTO:©DBRAUHARDT-FOTOLIA.COM, FOTO:©DUBOVA-FOTOLIA.COM
Szenen, wie sie in der ruhigeren Linie S1 und S11 täglich vorkommen. Die Elbvororte haben Glück: Der Betrieb der innerstädtischen S-Bahn-Strecken ist ungleich hektischer. FOTO:©DANR13-FOTOLIA.COM, FOTO:©DBRAUHARDT-FOTOLIA.COM, FOTO:©DUBOVA-FOTOLIA.COM
Selbst gesellschaftliche Extremsituationen lassen sich in der S-Bahn erkunden. Wie reagieren 1.000 Menschen, die während eines Herbststurms um 6.45 Uhr aus den Betten geworfen werden, sich zwangsweise in einem engen Raum zusammenpferchen und dann gesagt bekommen: Schluss mit lustig. Jeder pariert jetzt acht bis zehn Stunden lang.

Auch über das Sicherheitsempfinden einer urbanen Gesellschaft gibt der S-Bahn-Betrieb zuverlässig Auskunft.

Als Versuchsanordnung einer Universität würde das Szenario einen fünfstelligen Eurobetrag kosten. In der S-Bahn, an einem Montagmorgen im Oktober ist das alles ab 1,10 Euro zu haben.

Auch über das Sicherheitsempfinden einer urbanen Gesellschaft gibt der S-Bahn-Betrieb zuverlässig Auskunft. Manchmal geradezu dialektisch. So kommt es in der S1 zwischen Reeperbahn und Blankenese an den Wochenenden regelmäßig zu Diebstählen. Opfer sind Fahrgäste, die es sich nach vier bis sechs Gin Tonic auf den Polstern zu einem erholsamen Tiefschlaf bequem gemacht haben …

Wir können daraus schließen: Regelmäßiges S-Bahn-Fahren härtet ab. Der S-Bahn- Fahrer verliert an Hysterie, gewinnt an gesunder Skepsis, vielleicht auch an Gleichmut. Das Gezeter der Boulevardmedien etwa, nach denen wir unter anderem von einer Welle der Gewalt erfasst werden, ist ein Nachrichten-Porno für Autofahrer und die Provinz. Vom erfahrenen S-Bahn-Fahrer prallt so etwas ab – einfach weil die Welle in der Bahn Tag für Tag ausbleibt.

Auch religiöse Vorurteile lassen die meisten S-Bahn-Fahrer kalt. Als der Boulevard über Verschleierung und Burkas schäumte, konnte der Blödsinn in den Großstädten nicht zünden. Es gab zwischen Poppenbüttel und Wedel nämlich weder Tschadors noch Burkas zu sehen.

Letztlich ist die S-Bahn auch Indikator für die Durchlässigkeit einer Gesellschaft. Kaufleute, Wissenschaftler und Ingenieure müssten in Hamburg nicht S-Bahn fahren, werden aber regelmäßig zwischen portugiesischen Haushaltshilfen und nigerianischen Einwanderern gesichtet. Man bleibt unter sich, lässt sich ungerne auf Gespräche ein, wirkt unterm Strich aber auch angesichts drastischer Unterschiede in Gestus und Habitus gelassen bis abgeklärt.

Der Verweis auf Kaufleute führt uns nun zu einem ökonomischen Aspekt von S- und U-Bahn. Die Fahrpreise steigen Jahr für Jahr und werden weitgehend ohne Murren gezahlt. Das Geld ist offenbar da. Es gibt allerdings Überlegungen, nach denen S-Bahn und U-Bahn ausschließlich mit Steuergeldern betrieben werden sollten. Die weitere Entwicklung in dieser Frage könnte ein interessanter Gradmesser sein über den Stellenwert, den Hamburg einer egalitären und ökologisch sinnvollen Mobilität zubilligt. Wer nun Ökonomie und Massensoziologie verlässt und sich den individuellen Stimmungen zuwendet, der wird, wenn er ehrlich ist, Folgendes bemerken:

Die Konstruktivisten hatten nicht unrecht. So wie wir einen Gegenstand betrachten, so wird er uns erscheinen. Wer mit dem Hamburger Standardgesicht für öffentliche Angelegenheiten (Augenbrauen zusammen, Backenzähne fest aufeinander) am Jungfernstieg in die U2 steigt, wird dort eine unerfreuliche Ansammlung von Sackgesichtern vorfinden, die ein „Moin!“ nicht wert sind.

Hamburger hingegen, die sich gerade erfreulichen Ausschweifungen hingegeben haben und aus Versehen ein Lächeln aufblitzen lassen, bekommen selbiges, nach kurzer Verwunderung, zurück.

Den Autofahrer mag es erneut erstaunen, aber S- und U-Bahnen sind auch ein getreues Abbild des hanseatischen Balzverhaltens. Nicht unbedingt am erwähnten Montagmorgen im Oktober, aber an einem Freitagnachmittag im Juli entsteht diese nette Mischung aus planvollem Vorgehen und sehnsuchtsvollem Starren. Später hängen dann Zettel an Stationseingängen.

Hilfe! Ich hätte nach deiner Telefonnummer fragen sollen! Du trugst Jeans mit offenen Stiefeln und eine Wollmütze!

Autor: tim.holzhaeuser(at)kloenschnack.de

www.hvv.de

Volker Klein EDEKA

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