GESCHICHTE
„Lasst doch mal ein Kuchenpaket vom Stapel“
Ein Matrosengefreiter der „Bismarck“
Das hätte es dann gewesen sein können. Reflektionen und Gespräche im familiären Rahmen über Warum und Wieso des Krieges gab es nicht.
Die brutale Wirklichkeit der Nazizeit erschloss ich mir erst als junger Erwachsener.
Werteorientierungen aus der eigenen Familie blieben dabei allerdings weitestgehend im Dunkeln.
Reflexe
Die einfache Frage „Was habt ihr denn erlebt?“ erzeugte allenfalls Trotzreflexe.
Der Versuch, meine Eltern als Quellen zu nutzen, scheiterte an der Psychologie des Tabuthemas. Sie hatten wohl das Gefühl, dass ich ihnen ein schlechtes Gewissen vermitteln wollte.
„Aber mit frischem Mut und großer Lust wird schon alles gehen!”
Meine Mutter war 17 Jahre als das Nazireich kapitulierte. Von ihr wusste ich, dass sie zweimal ausgebombt und aus Kellern in Hamburg-Hamm gerettet worden war. Mein Vater hatte als einfacher Marinesoldat mit 22 das Kriegsende erlebt. Aus der Kindheit erinnere ich noch Äußerungen wie „die Nazis haben uns unsere Jugend gestohlen“. Was sie wirklich dachten und fühlten in jener Zeit, wird mir für immer verborgen bleiben, da beide nicht mehr am Leben sind.
Feldpostbriefe
Mit Tagebüchern irgendwelcher Art konnte ich meine nie befriedigte Neugier nicht stillen. Dann erinnerte ich mich an einen Schuhkarton mit alten Dokumenten und Familienfotos. Angeschaut hatte ich mir den Inhalt schon einmal vor Jahren – aber gewürdigt? Nein, eigentlich nicht. Ich holte es nach.
Mit einer gewissen inneren Spannung kramte ich den Karton hervor und entdeckte neben alten Zeugnissen, einer Arbeitsdienstkarte, einem Wehrpass und diversen Lebensmittelmarken auch insgesamt 28 Feldpostbriefe sowie eine Seite des „Hamburger Tageblattes“ vom 25. Mai 1941 über den „Sieg der Bismarck“.
Es waren Briefe meines Onkels. Welche Einstellungen und Werte würde ich bei deren Auswertung finden? Oder im aktuellen Jargon, wie „tickte“ eigentlich ein 19-jähriger Soldat in der Nazizeit?
Rau, aber herzlich
In seinen Zeilen geht es hauptsächlich um die Ausbildung zum Marinesoldaten und der „Chance“ einen Platz in der Stammbesatzung der „Bismarck“ zu erobern.
„Es ist ein hartes Leben jetzt, wir sollen am 30. Juni unsere Ausbildung beendet haben, und dann geht es gleich an Bord. Darum heißt es jetzt nur noch immer lernen, ob im Dienst oder in der Freizeit …
Wir haben so viel zu schreiben und zu lernen, dass wir so manches Mal nicht wissen, wo uns der Kopf steht und wie wir alles hineinbekommen sollen. Aber mit frischem Mut und großer Lust wird schon alles gehen. Denn wenn wir die Prüfung nicht bestehen, müssen wir eine zweite Ausbildung machen und die dauert bis Dezember und dazu haben wir alle keine Lust. Darum strengen wir unsere Schädel ein bisschen an und lassen die Frauen ganz bei Seite, was einem wohl schwer fällt, aber es muss gehen, denn wir wollen ja alle einmal höher kommen als Matrose.“
Mit sieben „guten Kameraden“ lebt er auf der Stube und alle seien bestrebt, die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen. Die Versorgung lobt er als „gut und reichlich“.
„Ich freue mich jetzt schon auf den Tag, wo wir gegen England fahren …”
Die Wirklichkeit des Krieges erscheint in diesem und späteren Feldpostbriefen allenfalls am Rande in Fragen wie: „War der Tommy schon wieder bei Euch?“
Gemeint sind die im Mai 1940 erstmals einsetzenden Luftangriffe der Royal Air Force auf deutsche Städte.
Abenteuer Krieg
Die Anstrengungen meines Onkels führten zum Ziel. Am 3. September 1940 berichtet er seiner Mutter, dass heute die Vereidigung erfolgt ist.
„Jetzt sind wir Soldaten fürs geliebte Vaterland geworden. Montag komme ich nach Gotenhafen zu dem Besatzungsstamm der Bismarck.“
Er ist auch froh darüber, dass er nicht wie einige seiner Kameraden zur Marineküstenartillerie nach Oslo kommandiert wird. Dann kommt ein Satz, der aus heutiger Sicht deutlich werden lässt, mit welcher erschreckenden Realitätsferne er einem ersten Einsatz nahezu entgegenfiebert: „Hoffentlich bekomme ich von dem Krieg noch etwas zu sehen, denn ich möchte doch so gern was erleben“, schreibt er an seine Mutter nach Hamburg.
Die todbringende Brutalität von Granaten gehörte nicht zum Erfahrungshorizont des 19 Jahre jungen Soldaten.
Was in ihm wirkte war das Gift der Nazipropaganda. Es hatte Spuren im Sinne eines fehlgeleiteten Enthusiasmus hinterlassen. Er fragte nicht, was denn das „geliebte Vaterland“ in Oslo, Paris oder Warschau zu suchen hatte.
Erfuhr er von seinem Vater nie etwas über die Schrecken des Ersten Weltkriegs? Seinem Enkel jedenfalls sind Erzählungen im Gedächtnis geblieben, dass „der Opa“ in den Schützengräben von Flandern den Glauben an Gott verloren hatte.
Meine Großeltern lebten mit fünf Kindern in einer Dreizimmerwohnung in Hamburg- Winterhude. Das Zusammenleben und die familiären Beziehungen können nicht immer nur konfliktfrei gewesen sein.
Deutliche Indizien dafür finden sich in einem Feldpostbrief vom 27. Juni 1940. Der Matrose Albert Kasten schreibt an die „Lieben Eltern und Geschwister“.
Er beklagt sich bitter, dass er Tag für Tag auf Post warte, dies aber leider immer umsonst. Niemand aus der Familie hätte Zeit für ihn, der jetzt fürs Heimatland kämpfen will.
Trost scheint er indessen durch Briefe von „den kleinen Mädels“ zu finden, die mehr für ihn übrig hätten.
Auf familiäre Verletzungen deuten Zeilen hin wie: „Sicherlich werdet ihr denken, dass ich immer noch ein schlechter Mensch bin und nichts aus mir werden wird, aber es ist nicht so, denn ich bin jetzt der beste Soldat (…) in der Kompanie.“
„Ihr werdet Euch wohl wundern, dass ich doch solch guter Sohn und Bruder bin“, offenbart sich der „falsch verstandene“ junge Soldat.
Die dahinter liegenden Muster von Schuld und schlechtem Gewissen lassen sich nicht mehr erschließen. Deutlich wird aber, dass ihm der Militärdienst Bestätigung gibt. Er hofft auch, seiner Familie den Beweis zu erbringen, dass etwas aus ihm geworden ist, wenn die drei Jahre (seiner Dienstzeit) vorbei sind.
Trotz Enttäuschung über versagte Anerkennung scheint die Bindung und das Vertrauen an die Eltern und Geschwister erhalten geblieben zu sein. Immerhin schreibt er seiner Mutter im Juli 1940, die für einen jungen Menschen in seiner Situation bittere Nachricht, dass „Ulla“ mit ihm Schluss gemacht hätte, da sie es alleine nicht aushielte. „Es ist für mich sehr hart, aber ich werde es schnell vergessen, denn es gibt ja noch so viel Mädel in der Welt“, lautet seine hoffnungsvolle Botschaft in der Feldpost aus Gotenhafen dem heutigen Gdynia.
Höhere Aufgabe
Dass die Lage bald ernst wird, deutet er erstmalig Anfang August 1940 an. „Bald an den Feind!“ heißt es da. Allerdings sollten darüber noch einige weitere Monate vergehen.
Auf den Feldpostbrief vom 2. April 1941 schreibt er erstmalig „Matrosengefreiter Albert Kasten“ auf den Absender. Er ist befördert worden.
Zwischenzeitlich erreichte ihn offensichtlich die Nachricht, dass Hamburg wiederholt bombardiert worden war. Seine Reaktion darauf ist eindeutig. „Ich freue mich schon jetzt auf den Tag, wo wir gegen England fahren, denn dann werden wir dem Tommy alles heimzahlen, was er in unserer Heimat angerichtet hat.“
Ob er jemals von den verheerenden Angriffen der Luftwaffe auf London oder Coventry gehört hatte, bleibt im Dunkeln. Er sieht die Ereignisse aus der beschlagenen Brille der Nazi-Propaganda. In seinem Idealismus glaubt er eine „höhere Aufgabe“ zu erfüllen, die er mit „ganzem Herzen“ angehen will.
Das Ende
Seinen Geburtstagskuchen zum 16. Mai habe er nicht mehr erhalten. „Schicksal, Du wirst das Päckchen wohl in der nächsten Zeit zurück erhalten. Mir geht es sonst sau wohl.“
Der Postverkehr bricht mit diesem Datum ab.
Die „Bismarck“ läuft zusammen mit dem schweren Kreuzer „Prinz Eugen“ in Richtung Atlantik mit dem Auftrag dort britische Geleitzüge zu bekämpfen.
In der Dänemarkstraße kommt es am 24. Mai zur ersten Begegnung mit dem Feind. Am 25. Mai meldet das „Hamburger Tageblatt“ den Sieg der „Bismarck“ über den Schlachtkreuzer „Hood“. Über 1.400 britische Marinesoldaten fanden dabei den Tod. Erstmals erlebte mein Onkel die blutige Wirklichkeit des Krieges. Was er und seine Kameraden empfanden, als die „Hood“ vernichtet wurde und sank, ist nicht überliefert.
Seinen 20. Geburtstag überlebt der Matrosengefreite Albert Kasten gerade mal elf Tage. „Sink the Bismarck!“, lautete der Befehl von Premierminister Winston Churchill. Der britischen Aufklärung gelang es, das deutsche Schlachtschiff im Nordatlantik zu orten. Es wird von schweren Marineeinheiten und Flugzeugen verfolgt und angegriffen. Das modernste Kriegsschiff seiner Zeit bekommt einen Torpedotreffer ins Ruder, wird manövrierunfähig und schließlich von der Schiffsartillerie des Gegners mit fast 3.000 Granaten zusammengeschossen bis es sinkt. Von über 2.200 Besatzungsmitgliedern wurden am 27. Mai 1941 nur 115 gerettet.
Überlebende Zeitzeugen berichteten Jahrzehnte später von den grausamen Zuständen an Bord der „Bismarck“ in den Stunden des letzten Gefechts. Aus Verzweiflung wurden in Offiziersmessen Alkoholschränke aufgebrochen, den Flaschen der Hals abgeschlagen, der Inhalt getrunken. Mit blutigen Verletzungen an den Mündern und Alkohol im Blut sah man so dem Inferno und einem sicheren Tod entgegen.
Für welche Werte mein Onkel und Millionen andere junge Soldaten geopfert wurden ist allen nachfolgenden Generationen heute geläufig. Die Chance für neue Erkenntnisse, die letztlich auch aus den Ruinen seiner zerbombten Heimatstadt Hamburg in der britischen Besatzungszone wuchsen, wurde ihm nie gegeben.
Autor: Joachim Kasten