2. Juli 2018
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THEMA: Sittenverfall!

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TIMS THESEN 

THEMA: Sittenverfall!

Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse
Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse
Es ist eines der breitesten Etiketten Deutschlands: Wann immer jemand einen Polizisten beleidigt, einen Lehrer schlägt, etwas stiehlt, jemanden ersticht, im T-Shirt ins Restaurant geht, besoffen brabbelt oder sich sonstwie daneben benimmt – der „Sittenverfall“ passt immer. Zumindest scheinen Journalisten und Politiker dieser Überzeugung zu sein, denn nahezu täglich beklagt jemand denn „allgemeinen“ Verfall der Sitten. Um nicht lange herumzuschwafeln, hier meine These: Der Sittenverfall ist ein Hirngespinst. Er existiert ebenso wenig wie der von der Boulevardpresse herbeigesehnte Anstieg des Verbrechens oder Chemtrails.

Was nun spricht für diese These?

1. Logik. Wenn die Sitten jedes Jahr auch nur eine Nuance verfallen würden, wäre nach ein oder zwei Generationen nichts mehr übrig. Die Klage ist ja nicht neu und findet sich auch in der Frühgeschichte der Publizistik wieder (gleich neben den Klagen über die Jugend von heute). Wenn sie wirklich zuträfe, sähen wir vor unserer Haustür ein einziges Hauen und Stechen. Das ist aber nicht der Fall. Wir sehen die Stadtreinigung und Fahrradhelme.

2. Historische Literatur. Lesen Sie eine Witzesammlung aus dem Mittelalter. Pfählen, häuten, mit Pech übergießen, zu Tode stürzen – damals gern genommene Pointen. Öffentliche Hinrichtungen dienten als Volksfest.

Höflich und rücksichtsvoll 

Auch die ersten realistischen Romane des 21. Jahrhunderts fächern vor uns ein Sittengemälde auf, in dem wir zarte Narzisschen es nicht leicht gehabt hätten.

3. Das Benehmen der Generationen kurz vor uns. Ein rassistischer, sexistischer, homophober, ignoranter Grobian konnte es in den 50er und 60er Jahren weit bringen – nicht trotz seines Benehmens, sondern gerade deswegen. Ungehobeltes, freches, aufsässiges und übergriffiges Verhalten konnte durchaus als persönliche Qualität gelten. Das ist heute anders. Angesichts dessen, was Menschen potenziell anrichten können, bin ich immer wieder erfreut, wie höflich und rücksichtsvoll es selbst in widerwärtigen Situationen zugeht (Stichwort S-Bahn-Ersatzverkehr, Stromausfall im Flughafen etc.). Hin und wieder dreht einer durch, schön, aber es gibt eben auch viele Menschen auf einem Haufen. Ich meine aber, wir sollten auf diesen Zivilsationsgrad nicht allzu stolz sein. Gute Sitten sind eine Folge von breitem Wohlstand über längere Zeit: Wir arrangieren uns, weil alle etwas zu verlieren haben.

Das zeigt übrigens auch ein Blick in ebenjene Presse, die von Sittenverfall schwafelt. Wer sich überdurchschnittlich häufig richtig daneben benimmt, das sind sehr Reiche und sehr Arme. Erstere sind über Wohlstand hinaus und leben in dem Wahn, unangreifbar zu sein. Die sehr Armen haben schlicht nichts zu verlieren. Beide Typen spielen in unserem Arrangement nicht mit, weil sie nicht an einen Nutzen für sich selbst glauben. Nun besteht die Mehrheit der Hamburger oder der Deutschen aber nicht aus Prinz Ernst August und Kevin, sondern aus Meier und Müller. Wer weiterhin an guten Sitten interessiert ist, sollte das fördern.

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