1. August 2016
Magazin

Wir brauchen eine Inventur der europäischen Machtverteilung

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DER HAUPTSTADTBRIEF

Wir brauchen eine Inventur der europäischen Machtverteilung

Es ist Zeit, das Recht in der EU wieder ernster zu nehmen. Damit das gelingt, muss es verschlankt und von bürokratischer Gängelung befreit werden | Von Udo Di Fabio 

Das „gemeinsame Haus Europa“ darf nicht zu einer konfliktträchtigen Miteigentümergemeinschaft verkommen, die allen Spannungen und Verschiedenheiten zum Trotz beschließt, immer enger zusammenzurücken – und nichts weiter davon hat, als dass einer des anderen Rechnungen, zusätzlich zu seinen eigenen, begleichen muss. Im Bild das Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel. FOTOLIA/GRECAUD PAUL
Das „gemeinsame Haus Europa“ darf nicht zu einer konfliktträchtigen Miteigentümergemeinschaft verkommen, die allen Spannungen und Verschiedenheiten zum Trotz beschließt, immer enger zusammenzurücken – und nichts weiter davon hat, als dass einer des anderen Rechnungen, zusätzlich zu seinen eigenen, begleichen muss. Im Bild das Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel. FOTOLIA/GRECAUD PAUL

Im demokratischen Rechtsstaat gilt das Recht, weil es so beschlossen ist. Ob es in sich stimmig, ob es gerecht ist, ob es die Freiheit fördert, den Frieden oder den Wohlstand: All das muss politisch mit Mehrheit entschieden werden. Noch im 19. Jahrhundert war umstritten, ob der moderne Staat einfach Recht setzen kann, wie es ihm beliebt oder ob Gesetzgebung nicht zumindest auch an ein größeres Denksystem, an Vernunft, an Tradition gebunden bleiben soll. Durchgesetzt hat sich die Positivierung des Rechts, also die Vorstellung, dass prinzipiell beliebiges Recht gesetzt werden kann, allenfalls durch formelle Regeln und die Grundrechte begrenzt.

Die Grundrechte, die Schranken der Verfassung sind wichtig, aber die Vorstellung, mit Recht jedes gesellschaftliche und politische Ziel verwirklichen zu können, ist schon im Ansatz fragwürdig. Kluges Recht gibt der Gesellschaft eine vernünftige Ordnung zur freien Entfaltung ihrer Potentiale. Blinde Rechtsetzung dagegen ignoriert die Bedingungen für die Verwirklichung des Gesetzes und auch die langfristigen Schäden aktionistisch gesetzter Regeln.

Die europäische Integration war über Jahrzehnte ein Musterbeispiel kluger Vertragsgestaltung und Rechtsetzung. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geht zurück auf die Römischen Verträge, die am 1. Januar 1958 in Kraft traten – und zwar mit vier Grundfreiheiten und der Idee eines gemeinsamen Marktes ohne Zölle, Handelshemmnisse und Staatsbeihilfen. Eine der Grundfreiheiten war die Freizügigkeit, die durchaus nicht erst mit Schengen eingeführt worden ist, sondern eine der Kernbotschaften von 1958 darstellt. Mit Schengen sind lediglich die Personenkontrollen an den Grenzen ausgesetzt worden. Freizügigkeit, Kapitalverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit und Warenverkehrsfreiheit – das sind die vier Garanten, auf die sich die eigentliche europäische Integration stützt. Und das hat eine ganz besondere Logik: Der Protektionismus der Staaten, diese unheilvolle Mechanik der europäischen Geschichte der Neuzeit, sollte ausgehebelt und durch einen zusammenwachsenden gemeinsamen Markt ersetzt werden.

„Es darf nicht sein, dass Europa von seinen Bürgern in erster Linie als Korsett empfunden wird.“

Diese Integrationslogik der ersten Phase hat über Jahrzehnte funktioniert. Meist nicht glatt, Agrarordnungen, sektorale Ausnahmen, Währungsfriktionen und die Beteiligung des Staates an Wirtschaftsabläufen bereiteten immer wieder Probleme. Doch insgesamt erwies sich die neue gemeinsame Wirtschaftsordnung als gelungene und dynamische Idee, genauso wie Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft. Der Binnenmarkt und die politische Verhandlungsmethode wurden ein weltweit anerkanntes Erfolgsmodell, das die Bürger durch seinen Erfolg überzeugte.

Das europäische Recht, das die alten disparaten Regeln der Mitgliedstaaten einander anglich und neu harmonisierte, diese Richtlinien und Verordnungen funktionierten bei aller – manchmal überschießenden Liebe zum Detail – recht gut. Sie passten zur Ordnungsidee des Binnenmarktes, ebenso wie zur politischen Agenda eines Zusammenwachsens über vernetzte Wirtschaftsbeziehungen. Wir erwarten, dass die Kommission Wettbewerbsverstöße ahndet und über die Beihilfekontrolle mit Argusaugen wacht.

Mitte der 1980er-Jahre wuchs der politische Ehrgeiz und ließ Wirtschaft ein Stück weit zu einem Instrument werden. Wie lassen sich die Vereinigten Staaten von Europa möglicherweise doch realisieren? Eine Idee war die Währungsunion. Wirtschaftlich gab es Bedenken, aber auch gute Gründe dafür. Dennoch war die Währungsunion in erster Linie ein politisches Projekt. Sie war ein Hebel, um zu mehr politischer Einheit zu kommen. Zu dieser Zeit wurden auch zum ersten Mal eine gemeinsame Asylpolitik und das Schengen-System auf den Weg gebracht. Auch Themen der inneren Sicherheit und Justiz sollten europäisch werden.

Diese zweite Phase des Zusammenwachsens unterscheidet sich erheblich von der ersten. Diesmal wurde nicht durchgängig ein konsistenter Ordnungsrahmen für die Wirtschaft vorgegeben, sondern mehr direkt politisch gestaltet – und das mit einem gewissen Dezisionismus, also auch mit einem vergrößerten Risiko überraschender Folgewirkungen. Die EU greift inzwischen viel tiefer in das ein, was klassischerweise politische Kernkompetenz der Mitgliedstaaten ist. Die Währungsunion folgt zwar mit ihren Konvergenz- und Stabilitätskriterien genau wie das Binnenmarktprojekt einer konsistenten Ordnungsidee, aber die fiskalische Disziplin und der Verlust der Schwankungsbreiten im Währungssystem legen Regierungen und Parlamente an eine sehr kurze Leine – und daran zerren nun demokratische Kräfte ebenso wie populistische Heilsversprecher von Rechts und Links. Es ist eine Kluft zwischen dem entstanden, was die EU als Gesetze verabschiedet, und dem, was politisch von den Bürgern in Europa getragen wird.

Die Dublin-Verordnung beispielsweise, die EU-Asylverfahrensrichtlinie, die EU-Asylaufnahmerichtlinie beschreiben mit großer Präzision, welche Rechte einem Asylbewerber zustehen. Weit weniger klar dagegen bleibt, welcher Staat eigentlich zur Aufnahme verpflichtet ist und ob die Staaten überhaupt zur Aufnahme verpflichtet sind. Die viel beschworene Solidarität bei der quotalen Aufnahme von Schutzsuchenden und Migranten findet keine deutliche Grundlage in Rechtstexten, schon weil manche Regierung sich hüten wird, derart sensible Fragen durch andere bestimmen zu lassen.

Die europäische Asylpolitik krankt daran, dass sie in den zentralen Entscheidungen einen Graben entstehen lässt zwischen einer sehr sympathischen humanitären Absicht und der Wirklichkeit praktischer Politik in einem gemeinsam koordinierten Europa. Es gibt insoweit im Recht Defizite, die politisch unter Druck stehende Regierungen geradezu einladen, eher nach dem kruden Kalkül des Moral Hazard zu spielen.

Für die Unterbringung von Asylbewerbern und die Bearbeitung ihrer Verfahren sind die Staaten mit einer EU-Außengrenze bislang auch deshalb zuständig, weil man damit einen Anreiz für die effektive und vertragsgemäße Sicherung der Außengrenze setzen wollte. Das hat nicht an jeder Grenze und nicht zu jedem Zeitpunkt funktioniert. Manchem Staat hat man allzu lange menschenunwürdige Aufnahmebedingungen durchgehen lassen, obwohl Gerichte hier längst deutliche Worte fanden. Vielleicht wurde auch ein Regelsystem installiert, das die gezielte Nichtbeachtung des Rechts begünstigt, weil die Beachtung des europäischen Rechts in den einzelnen Staaten inzwischen auf erhebliche Zustimmungsprobleme stößt.

Es ist blauäugig zu meinen, man könne in Brüssel eine starre Verteilungsmechanik für Migration in Europa festlegen und durchsetzen. Das ist eine Vorstellung, die die demokratischen Bedingungen in den Mitgliedstaaten ignoriert. Ein Staat wird immer darüber entscheiden wollen, wer in seinem Lande lebt und für wen dieser Staat dann eben auch seine territoriale Schutzverantwortung ausübt. Jeder Versuch, einen solchen festen Verteilungsschlüssel bei ansteigenden Aufnahmezahlen durchzusetzen, wird zwangsläufig das politische Gefüge der EU unter Druck setzen. Die undifferenzierte Vorstellung, die Europäische Union werde politisch und wirtschaftlich zu einer Einheit, indem man einfach neues Recht in Brüssel erlässt und alles vereinheitlicht, ist eine falsche Vorstellung.

Bereits im ersten Artikel des grundlegenden EU-Vertrages steht die bekannte Formulierung der „immer engeren Union der Völker Europas“. Dieses Bild klingt in vielen Ohren gut, hat im Vereinigten Königreich aber wohl eher beunruhigend geklungen. Man kann es ideell verstehen: als kulturelles Näherrücken, mehr Verständnis füreinander. Aber manche Engländer verstanden es praktisch nach dem Bild eines Hauses mit 28 Wohnungseigentümern. Wenn die Eigentümer beschließen, zur Wahrung des Hausfriedens immer enger aneinanderzurücken, was bedeutet das auf die Dauer? Müssten dann nicht irgendwann die Wände zwischen den Wohnungen eingerissen werden. Und steht nicht irgendwann ein Nachbar im Raum und will seine Rechnungen beglichen haben? Ist eine solche ideelle Linearität überhaupt ein vernünftiges Leitbild?

Es ist an der Zeit für ein neues Leitbild der Europäischen Union. Es geht um eine Inventur der Kompetenzen und der politischen Machtverteilung. Inventur heißt nicht, eine Welle der Renationalisierung einzuleiten. Wer vernünftig auf die EU schaut und wer das Gelingen des europäischen Projekts will, der wird sagen: Die EU muss weiter mit praktischen Lösungen in einem fairen und vernünftigen Rahmen der koordinierten Eigenverantwortung überzeugungskräftig sein.

Was die Bürger wünschen, ist beispielsweise, dass ein Unterstützungssystem wie die Europäische Agentur Frontex schlagkräftiger wird. Genauso ist es möglich, die Streitkräfte der Mitgliedstaaten zu stärken und besser zu integrieren, wie wir das aus der NATO kennen – ein regionaler Arm der NATO, der wirksamer handeln kann in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Also: Mehr Europa im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Es gibt aber auch Möglichkeiten, den Mitgliedstaaten Handlungsfreiheiten zurückzugeben, wenn es nicht gerade Kernkompetenzen wie die gemeinsame Handelspolitik betrifft. Auch die Funktionsfähigkeit und die Anreizwirkungen sozialer Sicherungssysteme sollten besser als bisher mit der Idee der Freizügigkeit zu einem beiderseits angemessen Ausgleich gebracht werden.

Das Recht muss insgesamt ernster genommen werden. Damit es ernster genommen werden kann, sollte es verschlankt werden. Wir brauchen weniger bürokratische Gängelung. Es wäre an der Zeit zu fragen, welche Kompetenzen zu allgemeinen Rahmenkompetenzen zurückgestuft werden können. Es ist an der Zeit, um eine EU zu kämpfen, die ihre Balance wiederfindet, die sich wieder um ein konsistentes Recht bemüht, und das kann auch heißen, übertriebene und gängelnde Harmonisierungsvorgaben zurückzustutzen. Es darf nicht sein, dass Europa von seinen Bürgern in erster Linie als Korsett und Behinderung empfunden wird – und darüber in Vergessenheit gerät, dass diese Europäische Union ein notwendiger Raum der freien Entfaltung von Persönlichkeit für alle Unionsbürger ist und bleiben muss.

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