In diesen Tagen braucht man keinen hysterischen Charakter, um unruhig zu werden. Konzerne und Bundesregierung schütten mit bemerkenswerter Freigiebigkeit Sonderzahlungen aus und die Tagespresse veröffentlicht den Füllstand von Gasspeichern … So ziemlich jeder Parameter deutet darauf hin, dass die Energiekrise nicht wie gewohnt in der Tagesschau stattfinden wird, sondern – buchstäblich – im eigenen Wohnzimmer.
T-Shirt im Januar?
Nun fällt auf, wie sehr sich unsere Gesellschaft an den Überfluss (fast) zum Nulltarif gewöhnt hat. Wer zum Beispiel in den klirrend kalten Tagen der Herbstferien 2021 den Flughafen Hamburg betrat, der konnte feststellen: Zimmertemperatur. Alle Terminals waren derart beheizt, dass man sein Gepäck im Hemd aufgeben konnte, mit glänzender Nase. Allein Terminal 1 umfasst 6.300 Quadratmeter. Auf dem Papier also die Fläche von knapp 60 mittelgroßen Stadtwohnungen. Betrachtet man jedoch die Höhe der Bauten, dann wird klar, dass hier die Fläche einer Kleinstadt beheizt wird, damit die Leute im Hemd Koffer aufs Band wuchten. Analoges gilt für große Kaufhäuser, Einkaufspassagen, Museen etc.
Auch die Wohlfühloasen unserer Gesellschaft bleiben nicht verschont – die großen Bäder, mit Whirlpool, Therme, Sauna und geheiztem Außenbecken. Quer durch Deutschland senken schon jetzt Bäder die Temperatur in den Becken. Einige versuchen, das bisherige Wärmeangebot durch höhere Eintrittspreise zu sichern. Bei einem Versiegen des russischen Gases sind laut Experten aber selbst Schließungen nicht ausgeschlossen. Bäderland Hamburg verweist auf langfristige Versorgungsverträge und sichert zu: Kurzfristig bleibe das Angebot wie gewohnt.
Dabei ist der Energieverbrauch von Bädern nicht so hoch wie erwartet. Bäderland gibt einen jährlichen Gesamtverbrauch von 82 Megawattstunden an. Das entspricht dem reinen jährlichen Stromverbrauch von ca. 25 Haushalten. Das Einsparpotenzial ist also, mit Blick auf die gesamte Stadt, eher gering.
Ähnliches gilt für andere öffentliche Gebäude. Museen, Behörden, aber auch Warenhäuser sind rein objektiv gesehen überheizt. Auch hier können Besucher im Winter hemdsärmelig umherwandeln – noch vor 50 Jahren undenkbar –, aber der Gesamtverbrauch spielt im Vergleich zur Industrie und dem privaten Verbrauch keine große Rolle.
Heizen ist Energiefresser Nummer 1
Der Durchschnittsdeutsche verbrauchte im Jahr 2000 durchschnittlich 175 Gigajoule. 20 Jahre später lag der Wert unter 143. Wir sehen also einen bedeutenden Rückgang, wahrscheinlich verursacht durch technischen Fortschritt wie z. B. effizientere Motoren.
Betrachtet man nicht mehr die Köpfe, sondern die privaten Haushalte in ihrer Gesamtheit, trübt sich das Bild. „Während der Verbrauch zwischen 2000 und 2012 um 14,5 % zurückging, nimmt er seitdem tendenziell zu und lag 2019 um 10,0 % höher als 2012“, schrieb das Statistische Bundesamt im Sommer 2021.
70 Prozent der Haushaltsenergie gehen in die Heizung. Hier sorgten technische Verbesserungen vor einigen Jahren für einen sinkenden Energieverbrauch pro Quadratmeter. Dieser Effekt war jedoch nur vorübergehend. Seit 2014 steigt die Energieintensität pro Quadratmeter Wohnfläche wieder an. Überspitzt formuliert: Die Deutschen haben ihre Gebäude optimiert und wollen jetzt, quasi als Gegenleistung, im Januar im T-Shirt im Wintergarten sitzen. Und geheizt wurde in den letzten Jahren vor dem Ukraine-Krieg – ausgerechnet – immer mehr mit Gas. Einsparungen hier würden das Wohnen also keineswegs auf den Stand der 50er Jahre zurückfallen lassen, wo nur die „gute Stube“ beheizt wurde, sondern eher auf den Stand der letzten Jahrtausendwende.
Wirtschaftliche Einschränkungen dank Energiekrise?
Zur Industrie: Sie verbraucht mit 28,5 Prozent den Löwenanteil der Energie in Deutschland, und insofern werden auch die Betriebe in Hamburg sich mit der Forderung auseinandersetzen müssen, zu sparen. Aber ist das so ohne Weiteres möglich? Glas zum Beispiel schmilzt zwischen 600 und 800 Grad. Das ist eine physikalische Größe, die sich nicht beeinflussen lässt. Das Umweltbundesamt geht jedoch davon aus, dass erhebliche Einsparpotenziale bestehen. So können zum Beispiel nach der Studie „Energieeffizienz: Potenziale, volkswirtschaftliche Effekte und innovative Handlungs- und Förderfelder für die Nationale Klimaschutzinitiative“ in den Sektoren Industrie und Gewerbe, Handel, Dienstleistungen rund 44 Milliarden Kilowattstunden Strom eingespart werden. Die größten Einsparpotenziale könnten danach besonders durch den Einsatz energieeffizienter Pumpen (5 Mrd. kWh), effizienter Beleuchtung (9 Mrd. kWh) und effizienter Lüftungs- (7 Mrd. kWh) und Druckluftsysteme (5 Mrd. kWh) ausgeschöpft werden.
Auch beim Brennstoffverbrauch läge noch ein erhebliches Einsparpotenzial vor. Denn dieser beträgt nach der oben genannten Studie für den Sektor Gewerbe, Handel, Dienstleistungen 33 Milliarden Kilowattstunden und für den Sektor Industrie 20 Milliarden Kilowattstunden.
Tempolimit alternativlos?
Nun bleibt die Frage: Wer soll diese energieeffizienten Pumpen, Lampen, Lüfter und Druckluftsysteme bezahlen? Die Industrie selbst ist die naheliegende Antwort. Schlecht ist nur, wenn sich eben diese Industrie- und Gewerbebetriebe aufgrund von Gasrationierung in einer wirtschaftlichen Schieflage befinden. Die Rufe nach staatlichen Hilfen werden dann nicht mehr zu überhören sein. Dazu unten gleich mehr, aber zunächst der beherzte Schritt ins Minenfeld: Tempolimit.
Von den Fakten her ist die Sache klar. Die Vorteile eines Tempolimits lassen sich anhand von Untersuchungen aus anderen Ländern nachweisen und sind in seriösen Debatten unstrittig. Politiker und Lobbyisten, die ein Tempolimit ablehnen, tun dies in vollem Bewusstsein, sachlich falsch zu liegen. Es geht dann eben ums Gefühl, um die Stimme, ums Geschäft. Folgerichtig kommt dann unter anderem das Argument „Fahrspaß“. Nun hat jedes Geschäft seine externen Kosten, also jene Kosten, die nicht von den Verursachern selbst getragen werden, sondern meist von der Allgemeinheit. Je höher diese Kosten, desto eher bemerkt und bekämpft man sie. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Deutschland seinen Sonderweg in diese Frage nicht mehr lange durchhalten wird.
Energiekrise oder Gaskrise?
Nun ließe sich argumentieren, dass die derzeitige Energiekrise vor allem eine Gaskrise ist. Wozu diese Debatten über Benzin und Strom? Sicher, es gab Anstiege bei Benzin und Diesel. Die Entwicklung der Gaspreise könnte diese Steigerungen jedoch bei Weitem übertreffen.
Fakt ist jedoch, dass sämtliche Energieträger teurer werden und es keinerlei Ausweichmöglichkeiten gibt. Hohe Gaspreise treffen also die gesamte Volkswirtschaft und damit auch die Menschen, die zu Hause mit Öl heizen. Steigen die Benzinpreise hingegen, werden darunter auch Menschen leiden, die nie ein Auto besessen haben. Die Hilfen der Bundesregierung kommen aus Steuermitteln. Und die müssen irgendwann aufgestockt werden. Bereits Mitte April rechnete die Deutsche Steuer-Gewerkschaft mit einer Neuauflage des Solidaritätszuschlags wegen der Kosten durch Corona-Pandemie und Ukraine-Kriegs.
„Die finanzielle Belastung des Bundes steigt aufgrund der ganzen Krisen täglich rapide an“, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende Thomas Eigenthaler der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“. Diese Kosten seien aus seiner Sicht „ohne ein Soli-Update nicht zu stemmen“.
Die Energiekrise lässt sich also drehen und wenden – nirgends wird ein Schlupfloch sichtbar. Es wäre also sehr wünschenswert, wenn sich die deutsche Wohlstandsgesellschaft eher im Anpacken als im Debattieren üben würde. Sonst ist es morgen eben nur noch die „Gesellschaft“.