27. Oktober 2022
Magazin-Tipp

Kirche auf der Kippe

Die Anzahl der Kirchenaustritte wächst. Nach dem Negativ-Rekordjahr 2019 verließen 2022 rund 640.000 Menschen die evangelische und die katholische Kirche.

Leere Kirche

Viele Kirchen bleiben leer – woran liegt das und wie sieht die Zukunft aus? // Foto: © Jesus/ Adobe Stock

Das Phänomen an sich ist nicht überraschend. Als diesen Sommer die aktuellen Zahlen bekannt wurden, waren aber selbst Statistiker und andere Fachleute erstaunt über dessen Stärke: 2021 verließen insgesamt 360.000 Menschen die katholische Kirche. Ein Negativrekord, der den Sprecher der Katholischen Bischofskonferenz zu klaren Worten zwang. Die Zahl sei Ausdruck einer „tiefgreifenden Krise, in der wir uns als katho­lische Kirche in Deutschland befinden“, sagte Georg Bätzing der Tagesschau.

Die evangelische Kirche verlor im gleichen Jahr rund 280.000 Gläubige. In der Summe führt dies zu einer historischen Verschiebung. Erstmalig leben in der Bundesrepublik eine Mehrheit von Bürgern ohne konfessionelle Bindung, insgesamt 50,3 Prozent. Nach wie vor gibt es eklatante Unterschiede zwischen Ost und West, aber dieses Mal ist es der Westen, der in Sachen Kirchenaustritt dem Osten hinterhereilt. (Fachleute waren kurz nach der Wende vom gegenteiligen Szenario ausgegangen.)

Woran liegt der Negativtrend?

Geforscht wird nun wieder nach den Ursachen. Ganz vorne in der Berichterstattung stehen die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche und der teilweise stümperhaft-ignorante Umgang damit. Dies mag für einzelne Erzbistümer auch tatsächlich der Hauptgrund sein. Bundesweit messen Statistiker jedoch einen anderen: Geld sparen. Laut einer Studie des Evangelischen Sozialwissenschaftlichen Instituts geben nur 24 bzw. 37 Prozent (evangelisch bzw. katholisch) der Befragten nach ihrem Austritt einen konkreten Grund an, zum Beispiel einen Skandal. Etwa 20 Prozent machen eine „gute Gelegenheit“ geltend und über 70 Prozent verwiesen auf die Kirchensteuer. Mit anderen Worten: Die Kirche ist den Leuten das Geld nicht mehr wert.

Angesichts der Zahlen sprechen Demografen bereits vom „Point of no return“. Die Masse der Nichtgläubigen setzt die verbliebenen Kirchgänger durch ihre schiere Präsenz unter Druck. Die Frage lautet nicht länger, warum jemand aus der Kirche austritt, sondern: Warum tritt man nicht aus der Kirche aus, wo dies doch mittlerweile gesellschaftlicher Standard in vielen Landesteilen ist? Die Dynamik der Zahlen stützen diese Thesen und auch die Signale aus der Politik. Olaf Scholz erwähnte bei seinem Amtseid Gott mit keiner Silbe.

Ist die Kirche noch zu retten?

Was tut nun die Kirche? Sie versucht sich gegen den Trend zu stemmen, von Seiten der Katholiken mit dem 2019 begonnenen „Synodalen Weg“. Hierbei handelt es sich um ein Reformpaket, das alles auf den Tisch bringt: Gleichberechtigung, Zölibat, Machtkonzentration. Ziel ist eine offene Kirche, in der sich Geistliche und Gläubige auf Augenhöhe begegnen. Kritische Stimmen blieben aber nicht aus. Befürchtet wird ein Verlust durch Beliebigkeit. Im Grunde steckt die Kirche hier im klassischen Dilemma einer konservativen Partei. Vertritt sie ihre Kernpositionen zu weich, dann wenden sich Traditionsanhänger ab, bleibt sie konservativ, dann wächst der Abstand zur Mehrheitsgesellschaft. Hinzu kommen all die Funktionäre, deren Existenz an den Erhalt der Organisation geknüpft ist. Der wortmächtigste Kritiker katholischer Reformbemühungen war folgerichtig der Papst.

Auch in der evangelischen Kirche gibt es liberale Stimmen, die eine Öffnung fördern, breitere Aufklärung bei Missbrauchsfällen, weniger Filz, mehr frische Luft. Aber auch hier treffen sie auf Konservative, die ebenfalls eine Profilschärfung anmahnen.  Auch bei den Protestanten gilt: Je liberaler, desto weniger Profil im Wettbewerb mit anderen Welterklärern.

Ist die Kirche zu liberal?

Tatsächlich ist die moderne Kirche europäischer Prägung bereits jetzt eine Schmusekatze. Das zeigt sich deutlich im historischen Vergleich und beim Blick ins Ausland. Ein aktuelles Beispiel ist Russland. Die orthodoxe Kirche betätigt sich im offenen Schulterschluss mit dem Kreml als Kriegstreiber. Religiöse Botschaften wurden mit Leichtigkeit ausgetauscht gegen imperialistische Parolen.

Der zweite aktuelle Fall kommt aus dem Iran. Bekanntlich wurde dort im September eine 22-Jährige verhaftet, weil sie ihr Kopftuch nicht „korrekt“ trug. Drei Tage später kam sie in der Haft unter unbekannten Umständen ums Leben. Aus den USA kommen unterdessen Nachrichten über religiös motivierte Abtreibungsgesetze …

Die Kette an Ereignissen, bei denen sich Religionen und ihre Vertreter als Zivilisationsrisiko erweisen, reißt also nicht ab. Der Dreißigjährige Krieg steht neben dem 11. September, neben dem Russischen Patriarchen Kyrill I., neben dem bewaffneten Mob, der auf Teherans Straße Jagd auf 22-jährige Frauen macht.

Das Paradoxe dabei: Je härter Kirchen gegen Menschen vorgehen, desto mehr gefährden sie ihre eigene Existenz. Dies ist in den USA derzeit zu beobachten, wo eben jene Abtreibungsge­setze eine Protestbewegung motiviert haben, die auch Unentschlossene erfasst. Die Anzahl der Kirchenaustritte hat daher auch in den USA seit der Jahrtausendwende stark an Fahrt aufgenommen. Den Leuten wird die Kirche schlicht zu „krass“.

Oder muss sie noch liberaler werden?

Es bleibt also nur die Umwandlung zur spirituellen Wellness-Oase. Warum ist die nicht erfolgreich? Eine weichgespülte Kirche, die alles und jeden toleriert, erschreckt niemanden mehr, ist nicht mehr „zu krass“. Zudem ist der Wille, selbst purer Fantasy zu folgen, ungebrochen. Weite Teile der relativ gebildeten und wohlhabenden deutschen Gesellschaft sind nach wie vor erreichbar für spirituell aufgeladene Erzählungen. Gerade Menschen mit akademischem Background vertrauen auch im Jahr 2022 noch auf Medizin ohne messbare Wirkung, auf Psycho-Konzepte ohne Qualitätsnachweis, auf Sternendeutung ohne Bezug zu Naturgesetzen – einfach weil ein konkretes gut verpacktes Versprechen dahinter steht: sanft gesund werden, sich „selbst finden“, das eigene Schicksal vorhersehen können (was nebenbei bemerkt zu einem erheblichen logischen Paradoxon führen würde). Man könnte also sagen, dass alle jene Gebiete, für die Kirche lange Zeit der Allzweckreiniger war, mittlerweile von Spezialisten besetzt sind, die es besser können.

Zurück zu den Kirchenvertretern. Auch Margot Käßmann, ehemals Landesbischöfin von Hannover, ist sich sicher: Ohne Kirche geht es nicht. Dem evangelischen „Sonntagsblatt“ sagte die Theologin: „Die Kirchen werden gebraucht, um den Menschen Halt, Kraft und Trost zu geben. Die Botschaft von der Liebe Gottes wird gebraucht, um Menschen aufzurichten.“

Wirklich die Liebe Gottes? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass Pastorinnen und Pastoren Menschen aufrichten, einfach durch eine nette und empathische Ansprache sowie Zeit zum Gespräch? Nehmen wir die in den Elbvororten zahlreich anzutreffenden Senioren: Die brauchen vor allem Kontakt zu Kindern und Enkeln, hilfreiche Nachbarn, ein ausgebautes Gesundheitssystem, einen Bringdienst fürs Theater und jemanden, der ihnen das Smartphone erklärt.

Alleinerziehende würden der Liebe Gottes fraglos Kinderbetreuung, Transferleistungen, eine flexible Verwaltung und ein funktionierendes Netzwerk vorziehen.

Das alles kostet, genau wie die Kirche. 50,3 Prozent der Deutschen haben entschieden, wo das Geld besser angelegt ist, und ihr Anteil wächst rasant.

 

Gemeindeaustritte im Islam?

Der Grad der Religiosität bei Einwanderern ist ein ungelöstes Problem der Sozial­forschung. Da der Islam in Deutschland bei Weitem nicht den Organisationsgrad der christlichen Kirchen aufweist, gibt es praktisch keine verlässlichen offiziellen Zahlen. Der Anteil der Muslime in Deutschland wurde in der Vergangenheit vielfach nach Herkunft bestimmt.

Wer also aus einem arabischen Land kam, wurde von Amts wegen zu einem Muslim, gleichgültig ob er oder sie nun gläubig ist oder nicht. Aus diesem Grund lässt sich auch die Anzahl derer, die sich von islamischen Gemeinden abwenden allenfalls schätzen.

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