16. Januar 2023
Magazin-Tipp

Tims Thesen: Das woke Melodram

An dieser Stelle erscheint jeden Monat Tim Holzhäusers Glosse mit einer gewagten These. Diesen Monat geht es um Toleranz und Selbstreflexion.

Autor Tims Thesen

Redaktionsleiter Tim Holzhäuser

Tims Thesen im Januar 2023: Neulich hatte ich das Vergnügen, zusammen mit meiner kleinen Tochter „Das Seeungeheuer“ zu sehen: einen aktuellen Animationsfilm, der zeigt, wo in der Branche derzeit der Hammer hängt. Sehr beeindruckend. Der Film ist darüber hinaus so divers wie mit dem Rechenschieber ermittelt. Die Produzenten haben peinlich genau darauf geachtet, dass sich jede Ethnie, jedes Geschlecht, jedes Alter etc. wiederfindet. Der erste Offizier eines Monsterjäger-Schiffes zum Beispiel ist eine Rastafarian Ende 40.

Meiner neunjährigen Tochter ist das nicht aufgefallen – gut! Es zeigt, dass das Ziel erreicht wurde: Auf dem Bildschirm buntes Spektakel ohne Klischees, das gleichzeitig pädagogisch wirkte – ohne dass junge Rezipienten diese Absicht bemerken.

Ich persönlich habe übrigens auch keinerlei Probleme mit Radiosprechern, Fernsehansagern und anderen Medienschaffenden, die gendern, beide Formen verwenden oder sich anderweitig um einen respektvollen Umgang bemühen. Solange das thematisch sinnvoll und mit Blick auf den Kontext passiert, finde ich es vernünftig. Und meist tut es das. „GeisterfahrerIn auf der A7“, habe ich noch nie gehört.

Toleranz geht ohne Drama

Irritierend wird’s allerdings, wenn der Kontext fehlt. Ich fasse mir mal an die eigene Nase. Im Redaktionsraum des Klönschnack hängt eine Regenbogenfahne. Ich gehöre dem Verein gefühlt seit dem Mauerfall an und kann mich an keinen einzigen Fall einer Diskriminierung queerer Menschen erinnern (Menschen, die es durchaus gab). Die Flagge hängt da mut- und risikolos. (Vielleicht sehe ich das aber auch zu streng und der Regenbogen ist einfach die Bayern-München-Flagge für Progressive.)

Wenn nun jemand laut und dramatisch wird, ohne dass ein entsprechender Grund vorhanden ist, dann nennen wir das nicht nur im Deutschunterricht „melodramatisch“. Kein echtes Drama, viel Show, wenig Mut zu Entscheidungen. Natürlich gibt es Diskriminierung von Schwulen und Lesben. Nur nicht unbedingt beim Klönschnack. Natürlich gibt es Diskriminierung von Hautfarben. Aber höchstwahrscheinlich nicht in der Karoviertel-Kneipe. Erinnern Sie sich noch an den Sticker „Kein Bier für Nazis!“, den man vor einigen Jahren immer wieder mal sah? Der hing nicht im „Deutschen Haus“, sondern in Stadtvierteln, in die sich seit Jahrzehnten kein Nazi mehr verlaufen hatte.

Melodramatisch finde ich es auch, wenn Menschen im privaten Gespräch gendern. Gut, wenn der Onkel aus Thüringen geärgert werden soll, meinetwegen. Wenn aber zwei Leute sich gut kennen und dann auch noch aus der selben progressiv-toleranten Blase stammen – wenn die vorm Bio-Bäcker anfangen zu gendern, dann ist das so mutig und nötig wie ein Pups in der Badewanne.

These für Januar: Wir sollten die Anstrengungen, eine gerechte, tolerante Gesellschaft zu schaffen, ernst nehmen. Dazu gehört Selbstreflexion und Sinn für Kontext. Melodramatik könnte der Sache eher schaden als nutzen.

Tims Thesen finden Sie auch jeden Monat in unserem E-Paper.

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