Im letzten Monat ging es hier um Propheten in Krisenzeiten, um das Aufscheuchen von Menschen, um Geschäftemacherei. Die Ereignisse zwingen mich zu einer Fortsetzung.
In den Medien wimmelt es derzeit von Reportern, die mit Helm auf dem Kopf ihre Beobachtungen schildern und damit höchsten Respekt verdienen. Die Beobachtungen werden dann an Experten weitergereicht. Aufgefallen sind mir persönlich Nato-Generäle a.D., die zu militärischen, aber auch politischen Entwicklungen befragt werden. Wir alle durften sehen, dass diese Generäle gestern zu 100 Prozent falsch lagen („Wird nicht einmarschieren!“) und uns heute unverdrossen erklären, wie es morgen weitergehen wird.
Auch andere Experten haben nach meiner Beobachtung die Trefferquote eines glücklosen Roulette-Spielers. Es wäre nun sehr einfach, all diesen Leuten Unfähigkeit vorzuwerfen, Geltungsdrang oder Ignoranz. Sehen die wirklich nicht, dass die Realität zu viele Parameter hat, um Entwicklungen zuverlässig vorauszusagen?
Die Zahl der möglichen Fehltritte? Astronomisch.
Zwischenthese: Doch, das sehen die Damen und Herren, aber wir wollen es nicht hören. Eine Mitschuld trifft hier die Medien und die Zuschauer. Selbst in einem Krieg gibt es Atempausen, während derer keine neuen Beobachtungen gemacht werden, keine neuen Daten reinkommen, sich keine Entwicklungen abzeichnen. Zuschauer und Medien würden es aber gleichermaßen nicht akzeptieren, wenn auch das TV-Programm oder der Online-Stream mal einen Gang zurückschaltet. Es muss berichtet werden, 24/7. Um das von der Arbeitsbelastung her auf die Reihe zu bekommen, greifen Journalisten dann auf jene Experten zurück, die sich in der Vergangenheit als unzickig und effizient erwiesen haben. Das sind dann eben immer diesselben, aber mit denen funktioniert der Ablauf im TV-Studio oder in der Redaktion.
Nun kennen wir die miserable Trefferquote von Experten in der Krise, hören beim nächsten Mal aber wieder gespannt zu. Warum? Analog zu meiner letzten These vermittelt uns der Experte zumindest das Gefühl, das ganze Schlachtfeld sehen zu können. Wir glauben zu wissen, was auf uns zukommt, was immer noch besser ist als Kriegsnebel.
Nächste These: Wir finden die Krisenberichterstattung auf bizarre Weise unterhaltsam. Mit ihrem rasanten Ablauf, all den Höhen und Tiefen im Minutentakt, erinnert sie an Katastrophenfilme. Der Newsstream der Tagesschau kann tatsächlich im dramaturgischen Sinne spannend sein. Cliffhanger werden für Medienschaffende und Konsumenten verlockend. „Bleiben Sie bei uns!“, heißt es im „Welt“-Studio nach jedem Beitrag.
Der Kanal „Vice News“ unterlegt schon seit Jahren Reportagen aus Kriegsgebieten mit Musik. Sie hören da dumpfes Grollen mit Bass und Beat, wie in einem Roland-Emmerich-Film.
Was nun tun? Weiß ich nicht. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass wir, wenn wir nur einmal am Tag Nachrichten gucken, alles Wichtige mitbekommen und unsere Nerven für wichtige Entscheidungen schonen.
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