Tims Thesen im Juni 2023: Künstliche Intelligenz ist in aller Munde, und neulich musste ich darüber nachdenken, wie sich das auf die Motivation auswirkt. Nehmen wir an, jemand widmet sich der Aquarellmalerei mit dem Plan, eine gewisse Meisterschaft zu erreichen. Künstler im Hamburger Westen malen zum Beispiel seit Jahrzehnten Elbansichten, einige mit Erfolg. Sie haben meist erhebliche Zeit und Energie investiert und das sieht man.
Nun wird es in Kürze auch für komplette IT-Anfänger möglich sein, Aquarellbilder digital zu erzeugen. Der unentbehrliche Wittenbergener Leuchtturm kann ebenso enthalten sein wie die untergehende Sonne, die verwaschene Baumreihe, die kleine Figur im Friesennerz. Abstraktionsgrad, Palette, Perspektive – all das lässt sich mühelos einstellen. Das Ergebnis, eben das ist neu, sieht fantastisch aus! Und natürlich gibt es auch die dankbare Industrie, die das digitale Kunstwerk in Museumsqualität auf Karton und Leinwand druckt.
Nun muss der Einwand kommen: Die Erschaffung des digitalen Bildes macht aber nicht so viel Spaß wie echtes Malen. Dieser Einwand impliziert, dass der Künstler seine Tätigkeit allein aus Freude ausführt: Der Weg ist das Ziel, das Bild an sich Lohn genug.
Als Redakteur, der für die Rubrik „Kunst und Können“ verantwortlich ist, muss ich da still grinsen. Tatsächlich hat die durchschnittliche Künstlernatur ein solides Ego. Hier und da werden erste Gehversuche mit Verve unters Volk gebracht; die Ausstellung eher zu früh als zu spät geplant. Öffentliche Anerkennung, Lob, Aufmerksamkeit sind das Ziel, was häufig auch offen eingeräumt wird.
Kann KI alles?
Wenn nun aber jede und jeder mit Hilfe der KI tiefschürfende Kunst erzeugen kann, dann wird sich die Anerkennung der Masse in Grenzen halten. Standardsätze wie „Das könnte ich nie“ werden ihre Bedeutung verlieren. Jeder kann dann alles, und in gleichem Maß wird die Aufmerksamkeit zurückgehen. Schon jetzt sind Plattformen wie Instagram oder Pinterest randvoll mit Werken, die gegenüber anerkannten Meistern bestehen können. Von diesen Werken sieht man sich während einer einzelnen S-Bahn-Fahrt 1.074 an und wendet sich dann resigniert ab: Gibt schon alles! Die Zeit, in denen eine korrekte Drei-Punkt-Perspektive Menschen Respekt abnötigte, geht gerade vorüber.
Meine These ist also, dass sich die Zahl derer, die eine auf den ersten Blick nicht notwendige künstlerische Fähigkeit lernen, sinkt. Es wird sich eine analoge Tafelrunde von Künstlern bilden, die an Althergebrachtem festhält, von der Masse her aber unbedeutend ist.
Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass bestimmte alte Gewerke, die nicht digital ersetzbar sind, eine Renaissance erleben. Vielleicht sehen wir künftig wieder mehr Vergolder, Sattelmacher, dress maker oder Intarsientischler.
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