12. Februar 2024
Magazin-Tipp

Tims Thesen: Mehr Lametta auf die Urkunde!

An dieser Stelle erscheint jeden Monat Tim Holzhäusers Glosse mit einer gewagten These. Diesen Monat geht es um die fragliche Optik von wichtigen Dokumenten.

Autor Tims Thesen

Redaktionsleiter Tim Holzhäuser

Tims Thesen im Februar 2024:

Neulich brauchte ich die Geburtsurkunde meiner kleinen Tochter für die Steuer. Oha. Kennen Sie dieses bestürzt-mitleidige Gefühl, das uns überkommt, wenn wir bestimmte Bekannte nach langer Zeit treffen? Bekannte, die wir optisch als ganz okay abgespeichert hatten, die Realität dann aber heftig widerspricht.

Genau dieses Gefühl hatte ich angesichts des Blatts 80-Gramm-Papier, stark holzhaltig, beschriftet offenbar mit einem Neun-Nadel-Drucker aus den frühen 90er-Jahren (Kind ist Baujahr 2013). Beschriftet nur mit dem Nötigsten. Kein lateinischer Sinnspruch, kein farbiges Wappen, nicht einmal irgendein Siegel gegen Fälschung. Verglichen mit einer deutschen Geburtsurkunde ist jede Steuerbanderole auf der Packung Kippen ein drucktechnisches Meisterwerk und verdeutlicht die Prioritäten.

(Eine kurze Bildrecherche bestätigt: Bei der Hässlichkeit von Geburtsurkunden verteidigt Deutschland einen internationalen Spitzenplatz.)

Oder nehmen wir die Einbürgerungsurkunde, die Menschen nach jahrelanger Anpassungsleistung und einem infernalischen Papierkram von Bürgermeister Tschentscher überreicht bekommen: Blassgrün, nicht ganz so schlimm wie die Geburtsurkunde, aber dennoch ein müder Abklatsch des naturalization certificate der USA. Eine Commerzbank-Aktie ist dagegen eine Ode an Typographie und Radierung.

Je wichtiger, desto hässlicher?

Wir stellen also fest: Je bedeutender und staatstragender ein Dokument für Privatpersonen ist, desto schlimmer sieht es aus.
Meine These könnte nun die Gründe für diese Lieblosigkeit aufzählen, aber das wäre trivial. Der Verwaltung ist die Optik Banane, weil Beschwerden, wie die meine, nicht vorgesehen sind. Die These lautet daher anders: Ich denke, dass die ostentative Gleichgültigkeit der Gestaltung persönlicher Dokumente eine Mitschuld trägt bei der Entfremdung zwischen Bürger und Staat. Anders gesagt: Die Identifikation fiele leichter, wäre mehr Lametta auf dem Dokument. Jeder Einzelhändler weiß, dass Außenwirkung wichtig, jeder Buchhändler, dass Typografie das A und O ist – aber bei Geburtsurkunde, Einbürgerung und Hochzeit soll alles egal sein? Hier, Trottel, nimm hin, ist ‘n paar Jahre knapp lesbar.

Stellen Sie sich vor, Sie beantragen einen neuen Reisepass und bekommen ein auf Büttenpapier edelst gedrucktes Dokument, gebunden in Saffianleder. Ihr instinktives Urteil über den Absender fiele deutlich anders aus, als wenn man Ihnen bedruckten Press-Torf ins Haus schickte …

Man könnte nun entgegenhalten, das sei alles unwichtiger Tand, solche Dokumente müssten ihren Zweck erfüllen, knapp lesbar sein, alles andere ist zu teuer etc. Ich wiederum halte das in Zeiten, in denen um Identität und Zusammenleben heftig gestritten wird, für naiv und kurzsichtig.

Daher: Mehr Lametta!

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