26. Mai 2022
Magazin-Tipp

Tims Thesen: Pflänzchen in Krisenzeiten

Redaktionsleiter Tim Holzhäuser schreibt für den Klönschnack jeden Monat eine Glosse zu den verschiedensten Themen – Tims Thesen eben.

Tims Thesen

Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse.

Corona, Krieg, Gaspreise – seit Jahren hagelt es nun schlechte Nachrichten, und es würde mich wundern, wenn diese Nachrichten nicht auch auf die Gesellschaft wirken, sie also mental verändern. Es könnte sein, dass die Deutschen ruppiger werden, robuster und fokussierter. Mit fokussierter meine ich: Klopapier, Benzin. Elementares eben. Wer dann noch mit genderneutralen Toiletten ankommt, wird einen schweren Stand haben. Für alles, was auch nur entfernt an das „Gedöns“ von Gerhard Schröder erinnert, bleibt dann einfach keine Zeit mehr.

Für denkbar halte ich aber auch das Gegenteil – und das ist die These für den Wonnemonat. Wir bekommen ja gerade drastisch demonstriert, wie ein Staat vorgeht, dem Einzelschicksale egal sind – selbst die Einzelschicksale von Angehörigen der Mehrheit. (Wie Russland mit Minderheiten, Abweichlern, Provokateuren etc. umspringt, wurde mehrfach dokumentiert.)

Bei uns hingegen das gegenteilige Bild. Selbst das Intimste landet in der Tagesschau. Wir erinnern uns an besagte Debatte mit genderneutralen Toiletten. Und ich erinnere mich auch, dass ich einmal im Gespräch mit Freunden die Dringlichkeit solcher Toiletten bezweifelt hatte – und angesehen wurde wie Heinrich Himmlers Wiederkehr.

Klopapier, Benzin. Elementares eben.

Dabei muss man kein Krisenmanager sein, um zu erkennen: Wenn die Mittel eines Staates nicht unendlich sind, dann werden Probleme priorisiert. Erst die Fälle, bei denen viele erheblich leiden, dann die Spezialinteressen. Da steht Schulessen im Zweifel vor Sanitäreinrichtungen.

Trotzdem betrachte ich es als Errungenschaft, dass wir solche Debatten führen – auch gegen den eigenen Widerwillen und auch direkt vor der Tür. In wohl jeder Nachbarschaft leben einige Sonderlinge, die uns manchmal hart auf die Nerven gehen mit haltlosem Gequatsche, der Weigerung, die Realität zur Kenntnis zur nehmen, etc. Aber angesichts des Ukraine-Dramas sollte klar werden: Eine Gesellschaft, die in ihrer Mehrheit noch die letzte Nervensäge als schützenswertes Pflänzchen betrachtet, ist ein sicherer Ort.

Menschen, die vom Staat mehr Intoleranz fordern – wie z. B. Mitglieder der AfD – haben in meinen Augen einen bemerkenswerten Mangel an Vorstellungsvermögen. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass sie eines Tages selbst an die Reihe kommen könnten. Wenn sich ein Staat an Homosexuellen abarbeitet, an Immi­granten und Abweichlern, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, sich anschließend den weniger „schweren“ Fällen zuzuwenden. Auch da findet dann eine Priorisierung der Aufgaben statt: erst der Schwule, dann der Geistliche und schließlich der Normalo, einfach weil er im Weg steht oder nicht in den Krieg ziehen will. Das sehen wir heute in Russland und vielleicht morgen in China.

These also: Die deutsche Gesellschaft wird sich ihre zivile Toleranz bewahren, gerade weil sie heute so ein offensichtlicher Trumpf ist.

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