1. November 2025
Verkehr

Gastkommentar: „Die Hölle, das sind die anderen“ – Teil eins unserer Verkehrsserie

Unsere Verkehrsserie startet mit dem Gastkommentar von Psychologin Elisabeth Berent. Hier erklärt sie, warum manche Gefühle im Straßenverkehr manchmal das Steuer übernehmen. Außerdem räumt sie mit manchen weitverbreiteten Mythen auf.

Warum hat der mir die Vorfahrt genommen? Musste die jetzt noch in diese Lücke ziehen? … Warum rast der so? Tja, warum eigentlich? Lesen Sie hier mehr dazu in unserer Verkehrsserie.

Warum hat der mir die Vorfahrt genommen? Musste die jetzt noch in diese Lücke ziehen? … Warum rast der so? Tja, warum eigentlich? Lesen Sie hier mehr dazu.

Lautes Hupen, wütende Gesten. Ja, im Straßenverkehr bestätigt sich Sartres Bonmot leidvoll: Viele fühlen sich selbst makellos, während „die Anderen“ zur Hölle werden. Kein Wunder – in spontanen Bedrohungsmomenten sind unsere eigenen Ängste und Stressreaktionen spürbar nah, die der anderen hingegen kaum erkennbar. So werten wir unser Verhalten als gerechtfertigt, während uns das fremde störend erscheint. Wir halten uns für gute Fahrer, die nur von „den Anderen“ ausgebremst werden.

Das zeigt auch der BASt-Verkehrsklima-Index 2024: Fußgänger loben sich und ihre Peer-Group, Auto- und Radfahrende erleben vor allem Konflikte untereinander. Doch Studien zeigen: Dieselben Personen verhalten sich als Autofahrer anders als auf dem Fahrrad. Die beobachtbaren Spannungen entstehen also oft eher aus Rollenkonflikten – nicht aus klar abgrenzbaren „Typen“.

Warum jemand zum Raser wird

Das autonome Nervensystem schlägt bei Gefahr Alarm (Polyvagal-Theorie) und versetzt uns in den Kampf-oder-Flucht-Modus. Umgekehrt übersehen wir im entspannten Autopilot-Modus mitunter wichtige Warnsignale (Cognitive-Control-Hypothese). Ein weiteres Phänomen ist die Risikohomöostase: Fühlen wir uns zu sicher, suchen wir unbewusst nach „Lieblingsrisiken“.

Das geringere objektive Risiko wird etwa durch schnelleres, aggressiveres Fahren „kompensiert“ – ob im Pkw oder auf dem Rad. Stau, Zeitdruck und dauerhafte Reizüberflutung lassen Stresshormone wie Cortisol oder Adrenalin steigen – unsere Frustrationstoleranz sinkt.  Ärger oder Angst entladen sich impulsiv – häufig unbewusst. Doch bei all dem sitzt der Autofahrer oft „am längeren Hebel“: Bei fast 70 Prozent der Fahrradunfälle ist ein Pkw beteiligt. Radfahrende tragen in nur knapp einem Viertel der Fälle die Hauptschuld – das relativiert das verbreitete Klischee vom „regelbrechenden Radler“.

Wenn die Alarmglocken schrillen – Was Stress mit uns tut

Das persönliche Naturell würzt das Verkehrsgeschehen zusätzlich: Wer etwa zur Nervosität oder Ängstlichkeit neigt, spürt schneller die Alarmglocken des Nervensystems, lädt sich rascher mit Cortisol auf und schaltet früher in den Verteidigungsmodus. Wer hingegen stark impulsiv veranlagt ist, wird unter Zeitdruck weniger durch das „Chef-System“ – sprich: den präfrontalen Kortex – reguliert und reagiert schneller mit riskantem Verhalten, etwa beim Spurwechsel.

Ältere oder unerfahrene Fahrer verfügen häufig über eine geringere kognitive Kapazität, sodass Multitasking sie rascher überfordert und Warnsignale untergehen. Und wer generell leicht ablenkbar ist, landet rascher beim Smartphone statt auf der Spur zu bleiben.

Ablenkbarkeit, Nervosität, Ängstlichkeit und Impulsivität

All diese Facetten – von Exekutivfunktionen, Erfahrung und Belastbarkeit über Ablenkbarkeit, Nervosität, Ängstlichkeit bis hin zur Impulsivität – verschärfen die diffizile Gruppendynamik. Doch statt bei sich selbst anzusetzen, rechtfertigen viele ihr Verhalten (Attributionstheorie), werten das Verhalten anderer pauschal ab (soziale Identität) oder übernehmen Regelbrüche als „normal“, weil „alle das machen“ (normative Fehlwahrnehmung). Hinzu kommt die Anonymität in unseren Blechkapseln, die enthemmt oder Rückmeldeschleifen erschwert – man kann sich im Rückspiegel eben nicht „in die Augen sehen“.

Ein Blick in die Praxis

Auch in der MPU-Vorbereitung (MPU= Medizinisch-Psychologische Untersuchung, Anm. d. Red.) begegnen wir erneut diesen Mustern. Erst wenn wir gemeinsam dieses „Vorspiel“ aus Ablenkung, Rechtfertigung und situativer Überforderung durchschauen, entsteht Raum für ehrliche Einsicht und echte Veränderungsbereitschaft. Nachhaltige Veränderung braucht mutige Selbstreflexion und eine, von innen kommende Motivation, Stress künftig besser bewältigen zu wollen. Verständnis, Aufgeschlossenheit, Einfühlungsvermögen und eine Prise Humor helfen, das verdeckte Potenzial der Betroffenen freizulegen.

Welches Fehlverhalten am häufigsten zu einer MPU führt

In den meisten Fällen führt Alkoholkonsum zur Begutachtung bei der MPU, knapp gefolgt von Drogen- und Medikamentenkonsum. Weitere Ursachen sind Verkehrsdelikte oder Straftaten im Zusammenhang mit dem Führen eines Fahrzeugs.

Fazit: Die Hölle sind wir selbst, nicht die Anderen. Wenn wir Stress reduzieren, Perspektiven wechseln, bewusst Rücksicht signalisieren und Geduld üben, wird aus „Gegeneinander“ „Miteinander“. Die Psychologie zeigt uns, wie es gelingen kann, dass dabei aus Anderen wieder Mitmenschen werden, mit denen wir die Straße teilen.

Zur Person

Elisabeth Berent, M.Sc. Psychologin mit verkehrspsychologischer Spezialisierung. // Foto: David Hinze - DHHMedia
Elisabeth Berent, M.Sc. Psychologin mit verkehrspsychologischer Spezialisierung. // Foto: David Hinze – DHHMedia

Elisabeth Berent ist Inhaberin von MPU-Kompetenz und M.Sc.-Psychologin mit verkehrspsychologischer Spezialisierung. Gemeinsam mit ihrem Team begleitet sie ihre Klientinnen und Klienten bei der Vorbereitung auf die Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU).

Was ist eine MPU?

Letztere kann fällig werden, wenn Zweifel an der Fahreignung einer Person bestehen – also daran, ob sie körperlich, geistig oder charakterlich geeignet ist, ein Fahrzeug sicher zu führen. Diese Zweifel können auch durch das Verhalten als Fußgänger oder Radfahrer entstehen und eine Prüfung nötig machen.

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