22. August 2023
Allgemein

Wo sind die Lehrkräfte? – Das Interview mit Grit Katzmann

Grit Katzmann ist erfahrene Berufsschullehrerin und Vorsitzende der Lehrergewerkschaften Hamburg. Im Interview spricht sie über die Ursprünge des Lehrkräftemangels und die Probleme, über die kaum gesprochen wird.

Grit Katzmann ist nicht nur Vorsitzende der Hamburger Lehrergewerkschaften, sonden unterrichtet an einer Berufsschule Wirtschaft und Geografie. - Grit Katzmann steht im Lehrerzimmer ihrer Schule. - Keyword Lehrkräfte

Grit Katzmann ist nicht nur Vorsitzende der Hamburger Lehrergewerkschaften, sonden unterrichtet an einer Berufsschule Wirtschaft und Geografie.

Frau Katzmann, der Personalmangel an den Schulen treibt derzeit viele in Hamburg um. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Es ist genauso drastisch, wie es Bildungssenator Rabe beschrieben hat. Er sagte, dass jeder sechste Hamburger Abiturient ein Lehramtsstudium beginnen müsste, um den Bedarf zu decken. Wir haben in der Vergangenheit viele Absolventen eingestellt. Doch dann war es für Jahre nicht mehr möglich, weil alle Planstellen besetzt waren – das ist ein stetiges Problem für das wir eine Lösung benötigen. Neue Kolleginnen und Kollegen sind infolgedessen in andere Bundesländer abgewandert. Wir haben jetzt die Schwierigkeit, dass viele Lehrkräfte in Pension gehen und diese Stellen nicht nachbesetzt werden konnten.

Geht es bei den Planstellen nur um die Stellen mit Beamtenstatus?
Ja. Und ich kann verstehen, dass man nach dem Referendariat die Sicherheit einer Verbeamtung sucht und lieber an einen Ort geht, der diese Möglichkeit bietet.

Hätte man die aktuelle Situation vermeiden können?
Das ist nicht einfach zu beantworten. Man kann gewisse Dinge nicht voraussehen.

Zum Beispiel?
Etwa, ob eine Familie drei oder vier Kinder haben möchte, die natürlich später beschult werden müssen, wie viele Menschen ziehen zu oder weg, wie viele Migranten kommen nach Hamburg? Da ist es schwer vorauszusehen, wie viele Studienplätze wann in Hamburg ermöglicht werden müssen. Daher möchte ich auch niemanden großer Fehler beschuldigen. Es gibt bereits viele Maßnahmen, um Probleme abzufedern. Doch alle, die in einer Schule tätig sind, sagen sich aktuell, dass etwas passieren muss, weil uns die Arbeit über den Kopf wächst.

Was sich an der Ausbildung der Lehrkräfte ändern muss

Was könnte man aus Ihrer Sicht tun, um für mehr Lehrer-Nachwuchs zu sorgen?
Es gibt bereits einige Maßnahmen. So wird es beispielsweise zukünftig keinen Numerus clausus (NC) mehr für Erziehungswissenschaften geben. Ein großes Problem ist jedoch, dass dieses Studium nicht auf das vorbereitet, was einen im Schulalltag erwartet. Dem muss man entgegenwirken. Die Studierenden müssen viel früher in die Schulen, etwa durch ein Praktikum oder studienbegleitende Einsätze, bei denen man den Berufsalltag kennenlernt. Viele erleben das erst im Referendariat und sagen sich dann, also nach ihrem Studium, „das ist aber ganz schön heftig“. Sie suchen sich dann etwas anderes, weil sie es gar nicht durchhalten würden. Außerdem ist die Ausbildung enorm aufwendig.

Was macht die Ausbildung so aufwendig?
Wenn man auf Lehramt studiert, dann studiert man Erziehungswissenschaften und mindestens zwei Fächer. Als Berufsschullehrerin habe ich damals auch noch Berufs- und Wirtschaftspädagogik studiert. Ich war also an vier Fakultäten der Universität Hamburg unterwegs. Das und die vielen Klausuren kann viele von dieser Berufswahl abhalten. Es wäre hilfreich, wenn man mehr Praxis ins Studium einbringen könnte und es kompakter würde.

Die Revolution, die keine ist

Was halten Sie davon, Kolleginnen und Kollegen aus dem Ruhestand zurückzuholen?
Es gibt wohl keine Schule ohne Pensionäre mit Lehrauftrag, die unterstützen. Grundsätzlich ist das auch eine gute Idee. Wenn ich aber bedenke, bis 64 oder 65 zu arbeiten und sich die Situation womöglich nicht bessert, so kann ich es mir für meine Person nicht vorstellen. Ich finde, es ist eine kurzfristige Lösung.
Was bislang nicht greift, sind Änderungen bei Studienzulassungen oder Quereinsteigern und es gibt ganz viele Kollegen, die nur ein Fach unterrichten. Bei diesen ist es schwer, sie vollwertig in den Schuldienst zu integrieren. Denn sie müssten nach jetzigem Stand noch ein zweites Fach studieren und dann auch noch mal ihr Referendariat machen, obwohl sie zum Teil schon 20 Jahre im Schuldienst tätig sind. Man zweifelt da schon etwas an der Bürokratie.

Der Präsident der Universität Hamburg sagte kürzlich, die neuen Maßnahmen – erleichterter Zugang zum Lehramtsstudium und mehr Studienplätze – seien eine kleine Revolution. Sehen Sie das auch so?
Nein. Die Studierenden kommen erst am Studienende für die Praxis in die Schulen und erst dann fällt auf, ob sie überhaupt für den Job geeignet sind. Man sollte es zur Studienvoraussetzung machen, vor Beginn ein zweimonatiges Praktikum zu machen. Nur weil jemand fachlich fit ist, heißt es nicht, dass er oder sie auch gut mit den Schülerinnen und Schülern arbeiten kann.

Für mehr Studierende zu sorgen bedeutet also noch nicht unbedingt, für mehr Lehr­kräfte zu sorgen?
Genau.

Jedes Jahr fehlen 900 Lehrkräfte

Jedes Jahr werden in Hamburg 900 neue Lehrkräfte gebraucht, so ein neuer Bericht. Wie kommt diese gewaltige Zahl zustande?
Gute Frage! Das Problem beginnt nach dem Referendariat, bei der Einstellung, weil Hamburg momentan sehr danach schaut, welche Fächer benötigt werden: Wir brauchen irgendwann nicht mehr den einhundertsten Politiklehrer, sondern müssen eigentlich Englisch, Mathe und Deutsch besetzten – oder mit Blick auf die Berufsschulen: Chemie, Metalltechnik und ähnliche Fächer. Doch wenn die Stellen anders besetzt sind, fehlen Kapazitäten für Mangelfächer.
Wir haben ja Lehrer im System, die aber schlecht einsetzbar sind, weil sie keine Mangelfächer haben, und das ist ein Teufelskreis. Eine Aufklärung zum Studium ist hier wichtig. In dem Sinne: „Nee, also, Politik haben wir schon genug, brauchst du gar nicht studieren. Mach doch lieber das, das wird total gesucht“

Wie kompensiert die Stadt momentan die fehlenden Lehrkräfte?
Wir haben Studierende, die für uns manches übernehmen, wir arbeiten mit Kern-Praktikanten, die also schon im System Schule sind und sich etwas dazuverdienen können und wir arbeiten außerdem mit Quereinsteigern.
An unserer Schule unterrichtet zum Beispiel ein Musikprofessor, weil wir keine Musiklehrer bekommen. Außerdem helfen Pensionäre. Man versucht, auch durch Abordnungen zu überbrücken. Ein Beispiel: Wenn wir 20 Kollegen haben, die Politik unterrichten, die aber bei uns nicht eingesetzt werden können, aber an einer Stadtteilschule jemand fehlt, dann versucht man das durch Abordnung zu kompensieren.

Die Probleme, um die nur wenige wissen

Im Vorgespräch erwähnten Sie, dass Lehrkräfte immer mehr Aufgaben erledigen müssen, die primär nichts mit dem Unterricht zu tun haben. Könnten Sie das näher erläutern?
Wir haben viel mehr Schüler, die einen großen Bedarf an Unterstützung und Begleitung haben. Fachliche Inhalte fallen da gar nicht mehr so ins Gewicht. Früher hatte ich von 25 Schülern vielleicht zwei, drei, wo es Probleme gab. Darum konnte ich mich gut kümmern. Heute ist es ungefähr die Hälfte der Klasse.
Wir haben zudem ein großes Problem mit Fehlzeiten, das heißt, ich muss den Schülern hinterhertelefonieren und fragen, wo sie sind. Mein Unterricht beginnt damit, dass vor mir ein Berg von Entschuldigungen liegt. Ich mache die erste halbe Stunde Orga. Das ist doch Wahnsinn! Und ich muss begutachten, ob ich die Entschuldigung überhaupt anerkennen kann.

Momentan gibt es viele Schülerinnen und Schüler, die psychische Probleme haben und eine therapeutische Begleitung benötigen. Ich werde in solchen Fällen von der Therapeutin angefragt, um eine Bewertung abzugeben. Dann gibt es noch das Fehlverhalten mancher Schüler. Dies wird protokolliert, es gibt Konferenzen und und und. Das alles kommt zum Unterricht heutzutage hinzu. Hierfür brauchen wir eine Lösung.

Gibt es genug Schulgebäude?

Obwohl mehr Schulen benötigt werden, gab die Katholische Kirche Hamburgs bekannt, vier Schulen zu schließen. Wie kam es zu dieser Situation?
Die katholischen Schulen befinden sich in freier Trägerschaft. Hier gab es eine jahrzehntelange Unterfinanzierung. Die Stadt zahlt den Schulen in privaten Trägerschaften weniger als ihren eigenen staatlichen Schulen. Modernisierungen, Beschaffung von digitalen Endgeräten und so weiter werden zum Teil über Sonderhaushalte finanziert, und die Schulen in freier Trägerschaft, insbesondere die katholischen Schulen, partizipieren davon nur im geringen Maße. Auch die Höhe des Gebäudeunterhalts ist in manchen Punkten strittig. Für viele Eltern ist eine katholische Schule eine Alternative zu den staatlichen. Der Bedarf besteht. Doch die Finanzierung dieser Schulen ist an einigen Stellen unsicher. Das erklärt wahrscheinlich die Schließung auf der einen Seite bei gleichzeitig 16 neuen staatlichen Schulen. Es herrscht einfach eine andere „Herangehensweise“ bei diesen Schultypen.

Was macht Hamburg, bis die neuen Schulen fertig sind?
Der Bedarf ist, mit Stand von heute, noch nicht so groß. Es geht mehr um die Zukunftsperspektive. Die aktuellen Schulen arbeiten zum Teil mit Modular-Systemen. Also Container-Lösungen. Bis die neuen Schulen fertig sind, müssen auch die Schulen, die noch keinen Neubau haben, mit den alten Gegebenheiten leben oder mit Modernisierung und Renovierung zurechtkommen. Um weiter zu kompensieren, werden auch freistehende Gebäude genutzt, die der Stadt gehören. Teils stehen auch Gebäude leer, weil Schulen fusioniert haben.
Es sind Zwischenlösungen, bis die Neubauten fertig sind. Dies soll 2030 der Fall sein. Ich denke, wir sind räumlich bereit für den Schülerzuwachs.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Zur Person:

Grit Katzmann ist Vorsitzende der Lehrergewerkschaften Hamburgs, einem Zusammenschluss verschiedener Berufsverbände für Lehrkräfte sowie Pädagoginnen und Pädagogen aller Schularten in Hamburg.
Grit Katzmann ist darüber hinaus Berufsschullehrerin für Wirtschaft und Geografie.

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