Herr Prof. Dr. Bayer, vor rund zwei Wochen hat sich schlagartig, so scheint es, die deutsche Verteidigungspolitik von Jahrzehnten geändert. Die Bundeswehr soll eine Neuausrichtung erfahren und besser ausgerüstet werden. Viele sagen, es sei ein überfälliger Schritt. Stimmt das und erfährt die Bundeswehr nun plötzlich eine neue Wertschätzung?
Ich denke, dass in der Politik gerade die Angst ausgeprägt ist, dass uns dasselbe passieren könnte, wie den Ukrainerinnen und Ukrainern, die einem Despoten hoffnungslos ausgesetzt sind. Es geht also nicht um Wertschätzung, es geht um den Wunsch, dass die Bundeswehr nun Leistungen erbringen soll, die sie im Moment nicht erbringen kann. Wir stellen fest, dass Frieden eben doch nicht umsonst ist, dass wir in den vergangenen 40, 50 Jahren die nötige Abschreckungskraft verloren haben. Zu wissen, dass wir im Moment kaum etwas entgegensetzen können, ist ein hoher Preis, den wir nun bezahlen müssen.
Wie hätte man den Krieg in der Ukraine vermeiden können?
Ich denke, eine wirksamere Abschreckung hätte Putin von vielen seiner grausamen Taten abhalten können. Es hätte auch geholfen, wenn wir, also der gesamte Westen und dabei vor allem die NATO, stärkere und eindeutigere Signale ausgesandt hätten. Einzelmaßnahmen von etwa Frankreich, Deutschland oder Großbritannien allein hätten natürlich nie ausgereicht.
Deutschland spielt eine wichtige Rolle
Was kann Deutschland aktuell bewirken und was sollte zukünftig möglich sein?
Deutschland hat versucht, sich unter den NATO-Schutzschirm zu stellen und in der Vergangenheit wie ein Freifahrer agiert. Freifahrer wollen Leistungen, die eine Gemeinschaft finanziert, nutzen, ohne sich an den Kosten der Bereitstellung zu beteiligen. Die dauerhafte Missachtung des 2-Prozent-Kriteriums in Deutschland ist ein Indikator dafür. Wir haben andere politische Aufgaben höher priorisiert als die äußere Sicherheit. Wir sind jetzt wieder dabei, ein verlässlicherer Bündnispartner zu werden, rein gemessen an den finanziellen Aspekten.
Deutschland ist wegen seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner politischen Rolle ein Land, das eine wichtige Position im Nato-Kontext einnehmen sollte – und dazu gehört auch, dass man gemeinschaftlich festgelegte Regeln einhält.
Was bedeutet diese Rolle für Deutschland selbst?
Es laufen Debatten darüber, dass Deutschland eine Art Drehscheibenfunktion in der NATO einnehmen könnte. Aber wenn einzelne Bürgermeister und Landräte bei Übungen sagen, dass bestimmte Streitkräfte ihre Orte nicht durchfahren dürfen, dann sind das Dinge, die mir mit Blick auf die Bündnisfähigkeit große Sorgen machen. Hier bedarf es insofern auch in unserem gesamten föderalen System eines Umdenkens.
Strategiewechsel der Bundeswehr?
Kommen wir zum Thema Strategie. Die soll in der Bundeswehr auch eine Neuausrichtung erfahren.
Im Weißbuch von 2006 stand bereits, dass die Bundeswehr auch dazu da ist, wirtschaftliche Interessen der Bundesrepublik abzusichern. Auf Fragen nach einer vermeintlichen Strategielosigkeit der Bundeswehr antworte ich regelmäßig, dass wir drei zentrale strategische Ziele verfolgen.
Und zwar?
Erstens Wirtschaft, zweitens Wirtschaft und drittens noch mal Wirtschaft. Um wirtschaftliche Interessen umzusetzen, bedarf es bisweilen militärischen Engagements, um etwa einer Situation an der Straße von Hormus oder der Piraterie am Horn von Afrika zu begegnen. Die Vorfälle in 2008 am Horn von Afrika haben uns doch gezeigt, dass wir bislang nicht den nötigen Einsatz gezeigt haben, um den freien Güterhandel aufrechtzuerhalten. Wir müssten über die Sicherheit von Verkehrswegen viel intensiver nachdenken. Da sind wir bislang etwas naiv herangegangen. Wir dachten, dass nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht mehr viel passieren kann und wir tatsächlich ein „Ende der Geschichte“ erreicht hätten.
Dachten wir?
Das dachten viele – und dann kamen der Klimawandel, die Terroranschläge vom 11. September, die Wirtschaftskrise, der Georgienkrieg, die Annexion der Krim … Die Lehre daraus lautet: Nichts ist umsonst, auch nicht der Frieden. Und wir müssen Ausgaben für Prävention aufbringen und damit verbundene Kosten tragen, um in Sicherheit und Freiheit leben zu können.
Wenn sie die neue Strategie in einem Satz zusammenfassen müssen, wie lautet der?
Wir müssen höchst flexibel, extrem kreativ und wenig affektgesteuert sein, um auf möglichst viele verschiedene Bedrohungssituation rational reagieren zu können.
Was bewirkt die Finanzspritze?
Kommen wir zurück zur Anfangsfrage. Was bedeuten die neuen finanziellen Mittel für die Bundeswehr und warum sind diese überhaupt nötig?
Die Debatte über Ausrüstungsmängel und fehlendes oder nicht einsatzbereites Großgerät hält schon länger an. Mit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 wurde zudem ein Wechsel in der Verteidigungsstrategie der Bundeswehr offensichtlich – Auslandseinsätze traten in den Hintergrund, die Bundeswehr richtete sich wieder vermehrt auf die Landes- und Bündnisverteidigung aus.
Ganz konkret, wie einsatzfähig ist die Bundeswehr?
Für mich wurde dies Ende vergangenen Jahres im jährlich erscheinenden Friedensgutachten der in Deutschland führenden Friedensforschungsinstitute besonders deutlich. Darin wurde eine eher funktionsunfähige Bundeswehr beschrieben. Und erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hat das Gutachten mehr Geld für die Bundeswehr gefordert. Dann gab es eine Art Schock, als Putin in die Ukraine einmarschierte. Und es stellte sich die Frage: Was täten wir, wenn es uns passieren würde? Das gipfelte dann in der Rede unseres Kanzlers, die Sie eingangs erwähnt haben.
Kommen wir zurück zum finanziellen Punkt. 100 Milliarden Sondervermögen und etwas mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts stehen im Raum.
Die Bundeswehr hat derzeit einen Haushalt von etwas weniger als 50 Milliarden Euro. Um das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, fehlen noch etwa 20 Milliarden Euro. Wir müssen also hoch auf über 70 Milliarden Euro. Die 100 Milliarden Sondervermögen stehen einmalig zu Verfügung. Das heißt aber nicht, dass wir alles in diesem Jahr ausgeben müssen. Wir gehen davon aus, dass es vier bis fünf Jahre sein werden. Aber da ist noch nichts entschieden.
Wieviel Geld braucht die Bundeswehr?
Würde das ausreichen, um die Bundeswehr optimal „betreiben“ zu können?
Es sollte ausreichen, um die Bundeswehr nach schätzungsweise fünf bis zehn Jahren wieder in den Zustand zu bringen, dass die Depots voll sind, dass wir Großgerät haben, das fliegt, fährt und schwimmt – um alle Teilstreitkräfte anzusprechen. Wir werden mit Sicherheit eine wirkungsvollere Komponente im Cyber- und Informationsraum entwickeln müssen. Und wir werden auch darüber nachdenken müssen, wie wir den Weltraum militärisch nutzen können oder müssen. Ich denke, dass wir es mit dem Geld schaffen können. Es geht aber auch um andere Dinge. Nämlich darum, was die Bundeswehr schon heute für die Gesellschaft bedeutet. Darüber hat man sich zu selten Gedanken gemacht. Der Wert von Frieden durch die schiere Existenz der Bundeswehr – als Ertrag funktionierender Abschreckung – wurde grundsätzlich negiert.
Können Sie das etwas ausführen?
Ein konkretes Beispiel einer ökonomischen Folgenbetrachtung der Bundeswehr sehen wir regelmäßig, wenn beispielsweise ein Stützpunkt geschlossen wird: Was passiert dann mit den umliegenden Gemeinden und den darin befindlichen Restaurants, Wäschereien, Sportvereinen etc.?
Sie sehen diese Zusammenhänge auch international: Meine Prognose für Afghanistan war immer, dass die mühsam erarbeiteten Erfolge, die im Wesentlichen auf das internationale Engagement von Soldatinnen und Soldaten zurückzuführen war, dann schlagartig verloren würden, wenn das Land wieder verlassen wird. Das hat sich im vergangenen Sommer leider bestätigt. Die Kaufkraft der internationalen Akteure brach plötzlich vollständig weg, Märkte wurden zerstört, die Versorgungslage in Afghanistan ist derzeit extrem schlecht. Und das sind jetzt nur die ökonomischen Facetten – daraus resultierende politische Konsequenzen muss ich hier nicht weiter ausführen.
Wofür wird das Geld genutzt?
Wie sind jetzt die nächsten Schritte im Umgang mit den neuen Mitteln?
Da muss zunächst eine umfassende Bestandsaufnahme angestellt werden. Zunächst müssen wir schauen, wo der Schuh am meisten drückt. Wir sprechen von Fähigkeiten: Welche können wir vorhalten und wo müssen wir noch Lücken schließen. Oder anders ausgedrückt: Was können wir derzeit leisten und was nicht. Es ist Aufgabe des Generalinspekteurs, des ranghöchsten Soldaten der Bundeswehr, dort Klarheit zu schaffen. Aber über Details kann ich noch nichts sagen. Ich kann mich nur auf den Koalitionsvertrag stützen.
Dieser fordert etwa bewaffnete Drohnen.
Richtig. Diese sollen jetzt angeschafft werden. Dann geht es auch um die nukleare Teilhabe, wozu auch der Kauf des Kampfflugzeuges F-35 gerechnet werden kann. Und wir brauchen eine bodengebundene Luftabwehr. Die Israelis haben hier das System Iron Dome, die Amerikaner ziehen eine Verteidigung aus dem Weltraum in Erwägung. Da haben wir ein Defizit. Mit Blick auf eine nukleare Bedrohung ist das die einzige Möglichkeit einer effektiven Verteidigung. Denn es nützt uns fast nichts, wenn man die Zweitschlagfähigkeit hat, sobald die Raketen auf uns zufliegen.
Drohnen, Engpässe und Beratung
Sie sprachen von schätzungsweise fünf bis zehn Jahren, bis das Gerät verfügbar ist. Das liegt auch an den Lieferzeiten und Genehmigungsverfahren, oder?
Ja, das ist ein großes Problem. Deshalb bestellen wir jetzt auch die F-35, die am Markt verfügbar sind. So ordert allein das Pentagon rund 2.500 F-35, wir bis zu 35. Hier haben wir also keine Schwierigkeiten, das benötigte Material zu beziehen und möglichst schnell nutzen zu können. Sonst würde es vermutlich viel länger dauern als bei einem Kauf „aus den Regalen“. Man nennt das auch „Commercial off-the-shelfs“.
Wie viel wird von diesem Geld für Berater ausgegeben? Oder bekommt es die Bundeswehr (diesmal) selbst hin?
Die Bundeswehr hat sich lange sehr hartnäckig dagegen gewehrt, überhaupt irgendwelche Berater zu beauftragen. An einem gewissen Punkt wurde das Ruder dann komplett von links nach rechts herumgerissen – und man hat mit vielen Beratern für praktisch jede Fragestellung gearbeitet. Es ist eines dieser Phänomene, dass man in der Bundeswehr oft von einem Extrem ins andere verfällt. Aber der Mittelweg ist das, worum es eigentlich geht und den wir anstreben sollten.Ich denke, wir kommen ohne sinnvolle Beratung nicht ganz aus. Nur ist das ganze Thema bei uns etwas in Misskredit geraten. Auch deshalb, und Sie spielen zurecht darauf an, weil unser Ministerium dasjenige ist, in dem insgesamt sehr hohe Beraterhonorare bezahlt wurden.
Bundeswehr in Hamburg
Der Bundeswehrstandort Hamburg hat keine Kampftruppe. Er gilt mit der Universität der Bundeswehr, der Führungsakademie und dem GIDS als intellektueller Standort. Welchen Stellenwert hat der Standort und das GIDS in der jetzigen Situation?
Einen ganz wesentlichen Stellenwert. Wir hier an der Führungsakademie bilden die künftigen Spitzenführungskräfte aus; einer oder eine davon wird irgendwann auch Generalinspekteur – oder Generalinspekteurin.
Außerdem haben wir gemeinsam mit der Universität den Masterstudiengang Militärische Führung und Internationale Sicherheit aufgelegt. Die Studierenden befassen sich dort mit strategischen Fragen, mit denen sie sich bereits in ihren bisherigen Verwendungen auseinandergesetzt haben. Diese Fragen gehen sie mit wissenschaftlichen Methoden nochmals an. Und so heben wir Innovationspotential. Der Studiengang war übrigens ein Grundstein für die Gründung des GIDS – das unter anderem dazu dient, Forschung an der Schnittstelle von militärischer Professionalität und akademischer Exzellenz zu fördern, einen kritischen Diskurs zu führen und damit auch Beratungsleistungen für das Bundesministerium der Verteidigung sowie die gesamte Bundesregierung anzubieten – in Sicherheits- und Verteidigungsfragen mit strategischer Reichweite. Das ist der Auftrag des GIDS – und wenn wir den gut umsetzen und Gehör finden, reduziert ein erfolgreiches GIDS zugleich eventuell erforderliche Beraterhonorare.
Wir danken Ihnen für das Gespräch