und
4. Juni 2025
Interviews

Kinder am Handy – was Eltern nicht wissen

In der realen Welt überbehütet, am Handy alleingelassen. Experte Daniel Wolff berichtet im Interview, wie wir Kinder fit im Umgang mit dem (ersten) eigenen Smartphone machen und sie vor Gefahren schützen.

Daniel Wolff

Digitaltrainer Daniel Wolff weiß, was Kinder online wirklich erleben. // Foto: Sebastian Edwin Roth

Herr Wolff, bezieht sich der Titel „Allein mit dem Handy“ darauf, dass Kinder keine Regeln im Umgang mit dem Handy erhalten oder dass sie durch das Handy vereinsamen?

Darauf, dass Kinder mit ihrem Handy alleine gelassen werden. Sie sind nicht alleine „durchs“ Handy – obwohl, das eigentlich auch. Aber es geht vor allem darum, dass sie alleine mit dem Handy gelassen werden und Sachen passieren, von denen Eltern nichts wissen. Darüber müssen wir reden. Nur, wenn man die Gefahren klar benennt und kennt, kann man seine Kinder schützen.

Nehmen Sie uns mit, was passiert dann? Was sehen Kinder?

Gewalt, Pornografie … das passiert in jedem sozialen Netzwerk. Zumeist nicht mit Absicht. Aber dann wissen die Kinder, dass es solche Inhalte gibt. Wenn ich in einer einzelnen Klasse bin, gebe ich Kindern oft Kreide. Jeder soll aufschreiben, was ihm am Internet am wenigsten gefällt. Ich geh raus, nach fünf Minuten stehen da Begriffe wie „Anal“, „Gangbang“ oder „Rape“ an der Tafel. Bei Neunjährigen.

Kinder sind neugierig. Guckt es einer, gucken es alle.

Und das ist vermutlich keine Ausnahme?

Nein. Die meisten Eltern denken sich „Aber doch nicht mein Kind“. Das ist das Dümmste, was man denken kann. Kinder sind neugierig. Guckt es einer, gucken es alle.

Sind Eltern beim Thema Smartphone zu naiv?

Auf jeden Fall. Das beginnt damit, dass viele Eltern keine Ahnung von den Apps haben, die ihre Kinder nutzen. Und selbst wenn sie die Apps kennen und selber nutzen, glauben viele, dass sie dadurch wissen, was ihre Kinder sehen. Aber der Algorithmus zeigt jedem etwas anderes. Außer, die Kinder zeigen es uns, werden wir nie wissen, was sie wirklich am Handy sehen.

Cover vom Bestseller "Allein mit dem Handy"
Der Bestseller von Daniel Wolff

Ist das in gewisser Weise ein Generationen­problem, dass insbesondere ältere Eltern sich das nicht vorstellen können?

Ja klar. Die Eltern hatten als Kinder kein Smartphone. Sie haben es als Erwachsene bekommen und nur als Erwachsene benutzt. Ich ja auch. Da fehlt einfach die Erfahrung. Wir können uns rein kognitiv schon vorstellen, was das Smartphone macht. Aber wie man sich als Kind fühlt, das fehlt einfach.
Und selbst, wenn man als Jugendlicher schon ein Smartphone hatte – in den vergangenen zehn Jahren hat sich so viel verändert. Die Algorithmen haben sich extrem verbessert. Instagram vor zehn Jahren und Instagram heute, das ist kein Vergleich. Obwohl es ein und dieselbe App ist. Alleine durch Reels oder Youtube Shorts, die dem TikTok-Prinzip folgen – dadurch sind soziale Medien viel attraktiver und süchtig machender. Die schaffen es ohne Probleme, ein Kind die ganze Nacht zu fesseln. Vor zehn Jahren ist man irgendwann vor Langeweile eingeschlafen, das passiert heute nicht mehr.

Wie kann man Kinder auf etwas vorbereiten, das man selbst nicht kennt oder versteht?

Also ich würde sagen, zweierlei. Das eine ist, die Eltern müssen sich interessieren und informieren – vor der Smartphone-Übergabe. Es gibt das Internet und es gibt ausreichend Literatur. Nummer zwei ist, intensiven Kontakt zu den Kindern halten.
Und alle Apps, die die Kinder nutzen, selbst ausprobieren. Auch die, die Erwachsene normalerweise nicht so attraktiv finden. Ich finde, wer seinem Kind TikTok erlaubt, der muss drei Stunden Pflicht-TikTok schauen.

Verstörende Inhalte, Suchtpotenzial – was ist denn die größte Gefahr am Handy?

Die Kamera. Die schlimmsten Fälle, die ich kenne, sind, wenn das Foto eines nicht-angezogenen Kindes in der Schule rumgeht. Das ist für Kinder die größtmögliche soziale Katastrophe und führt mitunter dazu, dass sie nicht mehr leben wollen.
Egal, ob als Mutprobe, Liebesbeweis oder einfach nur Spaß – Kinder, die ein Nacktbild von sich ans Internet verlieren, werden ihres Lebens nicht mehr froh. Und auch hier: Das passiert immer früher. Es gab gerade erst den Fall einer Achtjährigen.

Die größte Gefahr ist die Kamera.

Pornografie, Gewalt – in Filmen gibt es dafür ein Mindestalter. Gibt es so etwas wie Kinder- und Jugendschutz im Internet?

Es gibt nur einen einzigen funktionierenden Jugend- und Kinderschutz im Internet, und das sind anwesende Eltern. Es gibt sonst keinen technischen Mechanismus, der funktioniert. Nichts. Alle Altersangaben, die wir im Internet haben, sind wirkungslos. Das sind Pseudo-Maßnahmen zur Beruhigung der Eltern. Wer glaubt, dass die großen Social-Media-Konzerne irgendetwas für Kinderschutz übrig hätten, der ist naiv. Da geht es um Profit und sonst nichts.

Gäbe es eine Möglichkeit, zum Beispiel EU-weite Regelungen und Gesetze?

Europa ist digital nicht souverän, sondern abhängig von den USA. Drei Viertel des transatlantischen Datenverkehrs sind derzeit eigentlich illegal, entsprechen also nicht dem europäischem Recht. Aber auf globaler Ebene wird das bestehende Recht bislang nicht durchgesetzt.
Deswegen hilft nur Vertrauen, ein gutes Verhältnis, Nähe zum Kind.

Egal wie gut das Verhältnis ist – wie realistisch ist es, dass Eltern alles mitbekommen und erzählt kriegen, was auf dem Handy passiert?

Da muss man differenzieren. Rechtlich gesehen bin ich mit 14 Jugendlicher. Bis 13,99 bin ich Kind. Ich halte diese Grenze für sehr sinnvoll. Mein Sohn ist jetzt 14. Natürlich kriege ich nicht alles mit, was er im Internet macht. Er ist schlau genug, das vor mir zu verbergen.
Aber mir geht es zuerst um den Schutz von Kindern. Um Neunjährige, Achtjährige, Siebenjährige, Fünfjährige. Jedes zehnte Kleinkind in Deutschland zwischen zwei und fünf hat ein eigenes Smartphone oder ein Tablet. Pro Klasse habe ich etwa drei Kinder, die schon im Kindergartenalter sehr lange alleine im Internet unterwegs waren.

Es gibt nur einen einzigen funktionierenden Jugend- und Kinderschutz im Internet, und das sind anwesende Eltern.

Sollten Kinder denn überhaupt ein Smartphone bekommen?

Solange wir das Smartphone als Technologie nicht trennen können von Apps, die schlecht für Kinder sind, sollte man sich gut überlegen, ob man das überhaupt begleiten kann. An Grundschulen halte ich es nicht für begleitbar.

Daniel Wolff beim Digitaltraining
Daniel Wolff ist als Digitaltrainer in ganz Deutschland unterwegs. // Foto: Sebastian Edwin Roth

Welches Alter würden Sie für das erste Smartphone empfehlen?

In einer Welt ohne Gruppendruck: 14. Aber das ist in vielen Umgebungen nicht realistisch, geradezu weltfremd. Deswegen bin ich nicht so eindeutig mit dieser Zahl. Es kommt auf die Eltern an, wie gut sie sich auskennen, wie viel Zeit sie für ihr Kind haben, wie gut das Verhältnis ist.
Aber als Orientierung in der Gesellschaft ist 14 ein guter Anhaltspunkt. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn wir ein Mindestalter einführen. Das würde sehr vielen Eltern helfen. Einfach nur, dass sie eine Ahnung kriegen, da gibt es Gefahren. Smartphone und Internet sollten nicht zur Ruhigstellung genutzt werden, wie man es viel zu häufig sieht.

Oft kommt das Argument, ein Smartphone sei wichtig für die Erreichbarkeit und bringt Sicherheit.

Das ist absolut absurd. Wir überbehüten unsere Kinder in der reellen Welt und wir lassen sie völlig allein in der virtuellen Welt. Die Vorstellung, ein Smartphone brächte Sicherheit, ist völlig irreführend: Ein Entführer wird einem Kind nicht erlauben, ein Smartphone zu benutzen. Und auch keine Smartwatch. Wer will, dass das Kind einen anrufen kann, der kann ihm ein Tastenhandy geben. Ein ganz normales Tastenhandy für 20 Euro, ohne Kamera, reicht in der Grundschule völlig aus.

Was können Eltern konkret tun?

Drei Tipps. Erstens: Lesen Sie sich schlau, bereiten Sie sich ausreichend vor. Die Smartphone-Übergabe ist ein lebensverändernder Moment für jedes Kind.
Zweitens: Überlegen Sie sich mit ausreichend Vorlauf konkrete Nutzungsregeln. Auch ein Mediennutzungsvertrag zwischen Ihnen und dem Kind kann sehr hilfreich sein.

Ein Vertrag für Eltern und Kinder?

(lacht) Dieser Vertrag soll einfach für Klarheit und Sicherheit sorgen. Ich persönlich würde bei jüngeren Kindern eher streng sein und dann von Jahr zu Jahr lockerer mit den Regeln werden, immer neu verhandeln und anpassen.
Und die dritte Regel, die wichtigste von allen: Kein Bildschirm im Bett! Für alle. Das heißt auch für die Eltern nicht. Kauft euch eine Familienladestation und dann nutzt abends nach dem Zähneputzen und morgens vor dem Zähneputzen keiner mehr ein digitales Gerät. Die Schlafzimmer müssen gerätefrei bleiben und das sollten die Eltern vorleben!

Mediennutzungsvertrag

Bildschirmzeiten, Regeln zwischen Kindern und Eltern, allgemeine Verhaltensregeln im Internet, Kontaktaufnahme, Umgang mit privaten Daten, erlaubte und verbotene Seiten, das Abschließen von Abos, das herunterladen von Apps und Spielen… Und welche Besonderheiten gibt es beim Handy im Vergleich zum Tablet, Fernseher oder der Konsole? So viele Dinge, die es zu beachten gibt und die Eltern vielleicht gar nicht auf dem Schirm haben.

Die Webseite führt Schritt für Schritt durchs Thema, schlägt passende Regeln für verschiedene Altersgruppen vor und gibt Raum für eigene Gedanken.

Und dann können wir unsere Kinder mit gutem Gewissen ins Internet lassen?

Nein, das reicht immer noch nicht. Ich hoffe, dass bald noch mehr Eltern verstehen: Digitale Medienerziehung ist ein zentraler Bestandteil unserer Erziehung geworden und sie braucht heutzutage sehr viel- Zeit, Nerven und Kraft. Unsere Kinder werden täglich mit uns streiten um jede Sekunde Medienzeit – hier kann ein „Nein mit Liebe“ sehr viel Gutes bewirken.
Der schmale Grad zwischen so viel Kontrolle wie nötig und so viel Freiheit wie möglich ist heute aber nur dann zu finden, wenn die Eltern die Gefahren im Internet auch wirklich gut kennen. Weiterer Vorteil: Sind die Eltern medienkompetent, kommen die Kids bei Problemen auch eher zu Ihnen.

Wir danken für das spannende Gespräch.

Einen weiterführenden Artikel zum Thema Smartphones an Schulen finden Sie in unserer Mai-Ausgabe.

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