Interview: Tim Holzhäuser
Herr Prof. Eisenstein, welche Auswirkungen hat es auf eine Region, wenn sie so stark besucht wird, außer dem offensichtlichen Andrang?
Der Tourismus kann im Reiseziel ganz unterschiedliche Effekte entfalten, sowohl positive als auch negative. Grundlage ist die mit der Reise einhergehende Verlagerung von Kaufkraft oder ganz konkret: der zusätzliche Konsum, den die Touristen ins Reiseziel bringen. Die Bevölkerung im Reiseziel nimmt kurzzeitig zu und damit auch die Nachfrage nach Sachgütern und Dienstleistungen. Positiv betrachtet entstehen vor Ort zum Beispiel zusätzliche Wertschöpfung und Beschäftigungsmöglichkeiten.
Unerwünschte Effekte treten unter anderem auf, wenn der Tourismus die Umwelt belastet, die Infrastruktur am Reiseziel aufgrund der Anzahl der Touristen überlastet wird oder wenn die Bedürfnisse der Touristen in Konkurrenz zu den Bedürfnissen der Einheimischen stehen.
Eine solche Überlastung sehen wir zum Beispiel auf Mallorca. Die Insel hat nun „mutige Maßnahmen“ angekündigt. Aber wogegen richten die sich konkret und wie könnten diese Maßnahmen aussehen?
Die gegenwärtigen Proteste fokussieren vor allem auf den Anstieg von Wohnkosten und Immobilienpreisen. Wohnraum ist dort ein knappes Gut, um das Einheimische mit Touristen konkurrieren. Ein Teil der Touristen ist willens und auch in der Lage, mehr zu bezahlen als diese Teile der einheimischen Bevölkerung können. Hinzu kommen Lärm- und Umweltbelastungen durch den Tourismus. Auch bringen die Protestierenden zum Ausdruck, dass sie sich fremdbestimmt fühlen. Zu den konkret ins Auge gefassten Maßnahmen gehören beispielsweise Grenzen bei der Anzahl von Ferienwohnungen, Kreuzfahrtschiffen, Mietwagen oder auch Touristengruppen.
Müssen sich Urlaubsregionen wirtschaftlich neu aufstellen?
Auch die relativ wohlhabenden Deutschen reisen gerne günstig. Sind Pauschalangebote maßgeblicher Treiber für Besucherschwemmen?
Das kann eine Rolle spielen, aber ein Zuviel an Tourismus kann sich unabhängig von der Organisationsform der Reise einstellen. Zu den weiteren Ursachen zählen zum Beispiel global steigende Touristenzahlen, umfangreiche Marketingmaßnahmen, digitale Informations- und Buchungsmöglichkeiten, verbesserte Mobilitätsmöglichkeiten aber auch mangelhafte Infrastrukturen sowie unzureichende Planungen und Restriktionen bezüglich der touristischen Entwicklung.
Der Tourismus ist für viele Regionen, dazu zählen auch Mallorca und Venedig, die Haupteinnahmequelle. Die lokale Wirtschaft hat sich danach ausgerichtet. Müssten sich solche Regionen nun wirtschaftlich völlig neu aufstellen? Können sie das überhaupt?
Meiner Meinung nach dürfte dies in den meisten Fällen nicht möglich sein. Zudem ist es in der Regel auch nicht sinnvoll. Es geht nicht um „Tourismus: Ja oder nein?“. Das ist die falsche Fragestellung. Es muss vielmehr darum gehen, eine gesteuerte touristische Entwicklung voranzutreiben, die vor Ort vor allem auf die Lebensqualität möglichst vieler Bevölkerungsgruppen einzahlt. Auch ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob am Reiseziel Maßnahmen zur Diversifizierung der Wirtschaft möglich sind, um die starke Abhängigkeit vom Tourismus gegebenenfalls ein Stück weit zu vermindern.
„Man sieht mehr die Nachteile, als die Vorteile.“
Gibt es Konflikte zwischen den Einwohnern von, sagen wir Barcelona und der dortigen Tourismuswirtschaft?
In der Tat. Auch hier geht es darum, dass teilweise Bedürfnissen der Touristen der Vorrang gegeben wird. Die bereits angesprochenen Konflikte auf dem Wohn- und Immobilienmarkt zählen hierzu. Auch werden Einkaufsmöglichkeiten mehr und mehr auf Touristen ausgerichtet und nicht mehr auf die Bedürfnisse der Einheimischen. Gleichzeitig profitieren aber nicht alle vor Ort gleichermaßen vom Tourismus, sodass Teile der Bevölkerung vor allem die Nachteile und weniger die Vorteile, die der Tourismus mit sich bringt, verspüren.
Gibt es ein Grundrecht auf Reisen?
Ist die Nachfrage bei beliebten Urlaubszielen wegen der Proteste gesunken?
Inwiefern das im nennenswerten Rahmen auf die aktuellen Fälle zutrifft, lässt sich nur schwerlich sagen. Doch ist es leicht nachvollziehbar, dass Aspekte wie die erwartete Gastfreundlichkeit und das Sicherheitsgefühl eine Rolle bei der Auswahl des Reiseziels spielen. Wer möchte schon Urlaub an einem Ort machen, wo er Gefahr läuft, ständig mit „Tourist go home“-Botschaften konfrontiert zu werden?
Politiker suggerieren immer wieder, dass es eine Art Grundrecht der Deutschen auf günstige Reisen gibt. Ist dieses „Grundrecht“ aus Ihrer Sicht begründet und realistisch?
Juristisch betrachtet gibt es ein solches Grundrecht nicht. Allerdings genießen Urlaubsreisen bei uns Deutschen eine sehr hohe Konsumpriorität – lediglich Lebensmittel sind uns noch wichtiger. Viele sind sogar bereit, bei Ausgaben für Kleidung oder Freizeitaktivitäten zu sparen, um ausreichend Budget für den Urlaub zu haben. Zum einen gehören Urlaubsreisen zur allgemein praktizierten Konsumkultur unserer Gesellschaft, zum anderen kann jeder und jede mittels der Reisen den eigenen Lebensstil zum Ausdruck bringen. Aufgrund dieser gesellschaftlichen Relevanzen soll die Aussage zum „Grundrecht auf günstige Reisen“ wohl verdeutlichen, dass möglichst breite Bevölkerungsschichten sich wirtschaftlich eine Urlaubsreise auch leisten können sollten.
Wegen Überfüllung geschlossen?
Könnte der Massentourismus an eine Grenze stoßen, ab der Reisen schlicht keinen Spaß mehr macht, eben aufgrund ständiger Überfüllung?
In Gänze sind wir noch weit von einem Zustand der allgegenwärtigen Überfüllung entfernt. So haben wir etwa in Deutschland kein flächendeckendes Problem mit „Übertourismus“. Nach wie vor gibt es mehr Reiseziele, die sich zusätzliche Touristen wünschen, als solche, die über Überfüllung klagen. Global betrachtet steigt die internationale Nachfrage, doch offerieren auch immer noch weitere Reiseziele verstärkt Angebote im Tourismus – gegenwärtig beispielsweise Albanien oder Saudi-Arabien.
Allerdings stößt der Tourismus mancherorts in der Tat bereits an Grenzen, wobei das touristische Erlebnis des Einzelnen durch die große Menge der gleichzeitig Anwesenden gemindert wird. Umgekehrt gibt es auch das sogenannte „good crowding“, beispielsweise bei Events, bei denen die Anwesenheit weiterer Touristen eine Voraussetzung für das eigene, positive Erlebnis ist.
„Die Einheimischen müssen einbezogen werden.“
Kennt die Fachwelt bei Städten eine Art Obergrenze, vielleicht ausgedrückt in Millionen Übernachtungen pro Jahr, bezogen auf die Zahl der Einwohner?
Nein, so einfach ist es leider nicht. Bei dem Phänomen der Überfüllung handelt es sich um eine subjektive Größe. Die gleiche Anzahl von Touristen kann von verschiedenen Personen ganz unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. Einen allgemein gültigen „Tipping point“ – beispielsweise gemäß der Regel „x Touristen je Einwohner“ oder „so und so viel Touristen je Hektar Strand“ kann es nicht geben. Dafür sind die Situationen in den Destinationen zu unterschiedlich.
Den Reisezielen steht allerdings ein breiter Katalog von Maßnahmen zur Verfügung, um den Tourismus gemäß der jeweiligen Situation im Einklang mit den Bedürfnissen der Einheimischen zu ermöglichen. Im Grundsatz geht es darum, die negativen Auswirkungen zu minimieren und von den positiven Auswirkungen möglichst viele Einwohner profitieren zu lassen. Im Mittelpunkt steht auch die bewusste Integration der Einheimischen bei der weiteren touristischen Entwicklung. Das heißt, es werden umfassende Möglichkeiten der Information und Partizipation eröffnet, damit Einheimische die touristische Zukunft ihres Lebensraums gemäß den eigenen Bedürfnissen mitgestalten können.
„Es ist noch ein langer Weg.“
Wo gelingt das heute schon gut?
Es gibt zahlreiche internationale und nationale Beispiele für gelungene Maßnahmen und Initiativen – vom „Community based Tourism“ in Costa Rica bis zum partizipativ entwickelten Lebensraumkonzept von Norderney, von der Information und Integration der lokalen Bevölkerung in Tansania bis zur „Langen Nacht der Tourist Info“ in Regensburg. Auch die mittlerweile vielerorts – zum Beispiel auch in Hamburg und Schleswig-Holstein – praktizierten Befragungen der einheimischen Bevölkerung zum Tourismus am eigenen Wohnort zählen zu den sinnvollen Maßnahmen. Gleichwohl: Nach wie vor gilt es für viele Reiseziele zunächst zu erkennen, dass ein Wandel notwendig ist. Bis zur umfassenden Verbreitung der Erkenntnis, dass der Tourismus den Einwohnenden Nutzen stiften soll – und nicht umgekehrt – ist es noch ein langer Weg.
Wie verbringen Sie Ihren Urlaub?
Auch das kann ganz verschieden sein. In diesem Jahr mache ich beispielsweise eine einwöchige Radreise in einem deutschen Mittelgebirge und eine längere Outdoor-Tour im südlichen Afrika.
Herr Prof. Eisenstein, vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person
Prof. Dr. Bernd Eisenstein
Der Wissenschaftler wurde 1965 in Kusel (Rheinland-Pfalz) geboren. Bislang veröffentlichte er über zwei Dutzend Bücher zu touristischen Themen. Gegenwärtig ist er Direktor des Deutschen Instituts für Tourismusforschung und Professor für Touristische Nachfrage an der FH Westküste, der Europa-Universität Flensburg und der North-West University in Südafrika. Eisenstein hat zwei Töchter, lebt in Lübeck und ist Mitglied sowie bekennender Fan des 1. FC Kaiserslautern.