Bericht: Dr. Claus Deimel – Meine kleine Besiedlungsgeschichte der Elbvororte beginnt mit der Feststellung, dass unsere frühesten Vorfahren sogenannte Altsachsen waren, von denen zahlreiche Grabfunde, Urnen, Waffen, Steinkreuze, spärlicher Schmuck und die Grundsteine ihrer meist kreisrunden Häuser überliefert wurden.
Wie genau sich die Bevölkerung damals, etwa um 1000 v. Chr. zusammensetzte, ist nicht bekannt. Das heutige Sächsisch wurde allerdings hier nicht gesprochen. Stattdessen gab es eine aus dem Altgermanischen erwachsende Sprache. Aus dieser gingen später frühe Formen des Hochdeutschen und auch des Altenglischen hervor.
Von Villen und Wilden
Gehe ich heute auch im Dunkeln durch diese Villengegend und begegne freundlich grüßenden Mitmenschen, so dürfte das vor Jahrhunderten eher schwierig gewesen sein. Im Laufe der Jahrhunderte lebten hier verstreute Gruppen von Goten, Jüten und Wenden, die in der Regel miteinander verfeindet und für ihre Raubzüge bekannt waren. Da wäre ich als Fremder wahrscheinlich nicht weit gekommen, hatte doch um 500 n. Chr. Herr Tiberius, ein etwas hochnäsiger Römer, der allerdings nur bis Geesthacht kam, meine siedlungsmäßigen Vorfahren im Westen und Norden als kulturlose Wilde beschimpft. Friedlich war es in der Tat damals wohl insgesamt in dieser Gegend nicht, und auch nicht so schön „geschleckt“, wie es in Schwaben heißen würde, wenn ich die mehr oder weniger häufig gereinigten Straßen der Elbvororte heute in der Regel gefahrlos überquere.
Fahre ich mit dem Fahrrad von Altona aus in Richtung Waseberg, um die für hiesige Verhältnisse alpine Höhe (fast 90 m) des Bismarcksteins zu erklimmen, so werden mir die hügeligen Verhältnisse (Blankeneser nennen das Berge) auch muskulär bewusst. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts war die in sich zerklüftete eiszeitliche Endmoräne, die ich hier rauf und runter strampeln muss, kaum besiedelt und eher eine karge Heidelandschaft mit vereinzelten Waldungen und bescheidenen Getreidefeldern, die erst über Generationen hinweg ertragreich gemacht werden konnten.
Das Menschenwerk der vergangenen 300 Jahre
Was ich heute sehe, die schönen Baumbestände, die Gärten mit seltenen Zierpflanzen, die Parks und gelegentlich sogar noch Felder – das alles ist Menschenwerk der letzten 300 Jahre Besiedlungsgeschichte. Kolonisierung der Vororte Hamburgs nannte man das früher. Zwischen den frühen archäologischen Zeugnissen der Besiedlung und dem 12. Jahrhundert mit den ersten historischen Erwähnungen liegen lange Zeiten, über die wir wenig wissen. Wer hier genau durchzog und eventuell sich ansiedelte, ist noch kaum bekannt. Später mit den Gründungen liegen etwas bessere Berichte über die Elbvororte vor.
Ich lese vom alten Blankenese (1301 das erste Mal erwähnt) mit seinen armen Fischerfamilien, die zeitweise unter den Raubrittern des Solonberges (heute Süllberg) zu leiden hatten und die deutlich ärmer waren als die Marschenbauern gegenüber im Alten Land. Ich lese auch, dass damals fast jede zweite Frau in Blankenese Breckwoldt mit Nachnamen hieß und finde damit den alten Witz, dass Eva, die Frau Adams, eine geborene Breckwoldt gewesen sein muss, vollauf bestätigt.
Die Besiedelung der Elbvororte
Wie kamen aber die Menschen hierher, waren es ausschließlich spätere Villenbesitzer und -besitzerinnen, wie uns zahlreiche schön illustrierte Bücher erzählen? Und wer kam mit ihnen und ließ sich hier nieder? Bestimmt nicht ausschließlich vermögende Familien, sondern viele andere auch, die sich keine Villen leisten konnten und sich vergleichsweise kleine Siedlerhäuser bauten, die heute übrigens zu erstaunlichen Preisen angeboten werden.
Die Geschichte dieser Besiedlung mit ihren vielen Details über Besitzstand, Verwandtschaft und Herkunft müsste erst noch geschrieben werde. Eines aber ist sicher: Die im Laufe der Zeit in den Elbvororten entstandene Bevölkerung (es dürften heute zwischen Altona und Wedel an die 300.000 Menschen sein) ist immer schon eine Mischbevölkerung gewesen, die sich aus vielen Regionen Europas und Sprachen der Welt zusammensetzt. Auch hier gilt: Mischung ist die Regel, Isolation die Ausnahme und auf Dauer nicht überlebensfähig.
Die erste Straßenbahn in den Elbvororten
Ab 1900 gab es eine Straßenbahn vom fernen Barmbek herkommend, echtes Ausland damals. Deren Linie wurde später bis ans Ende der Elbchaussee fortgeführt. Die Fahrt (sie dauerte 109 Minuten) war vergleichsweise billig. Damit wurde es für viele Hamburger, Altonaer und andere Ausländerinnen möglich, in die damals exotisch wirkenden Elbvororte vorzudringen. Die Straßenbahn durfte aber nach dringlichem Einwirken mancher Eigner und Eignerinnen an der Elbchaussee nicht über diese selbst rattern, sondern musste hinten herum über Nienstedten fahren. Die Straßenbahn wurde wegen Unwirtschaftlichkeit jedoch 1921 wieder eingestellt. Trotzdem war die neuerliche Besiedlung der heute als größtes zusammenhängendes Villengebiet Europas geltenden Elbvororte nicht aufzuhalten.
Und wer sollte sie aufhalten? Frühe Grenzen zwischen Preußen und Dänemark und Zollstationen, die den Fischern die Waren verteuerten, bis es sich nicht mehr lohnte, sie nach Hamburg zu bringen, waren seit Ende des 19. Jahrhunderts weggefallen. Verstärkt wurde die Öffnung nach langandauernder Kleinstaaterei bereits Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Bau einer Dampf-Bahn (heute S-Bahn) zwischen Altona und Blankenese und später auch bis nach Wedel.
Der Blankeneser Bahnhof (1867 eröffnet) ist älter als der Hauptbahnhof des östlich gelegenen großen Vorortes des Elbvororte, Hamburg, und ist ein weiterer Beleg für die beginnende starke Besiedlung dieser seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Lebten um 1900 nur wenige tausend Familien in der Gegend zwischen Övelgönne (1674 erstmals erwähnt) und Rissen (schon 1255), so waren es fünfzig Jahre später bereits mehrere zehntausend.
Die Fremden aus Hamburg
Von allen Seiten kamen die Zuströme, und zwar herkunftsmäßig immer interkulturell, oder wie es auf Plattdeutsch hieß: aus fremden „Natschionen“ (Nationen) kommend, wobei von den Alteingesessenen schon Menschen aus gar nicht so entfernten Orten (wie etwa Hamburg) als fremd angesehen wurden und der Überlieferung zufolge erst drei Generationen hier leben mussten, bevor sie überhaupt „dazugehörten“. Mit anderen Worten, ein ausgeprägtes Ressentiment gegenüber Fremden und Zugezogenen beherrschte damals das Denken vieler.
Nicht nur reiche Familien und alteingesessene Hamburger, sogenannte Pfeffersäcke, nahmen an der historischen Kolonisierung des Gebietes der heutigen Elbvororte teil, sondern natürlich auch Frauen und Männer aus den Berufszweigen Landwirtschaft, Bootsbau, Handwerk im allgemeinen, Gartenbau, Bäckerei, Schlachterei usw. Ihre Geschichte aufzuschreiben würde sich lohnen. Ebenso wie die der Künstlerinnen und Künstler, die sich im Zuge der Besiedlung hier niederließen, weil sie die eigenartige Atmosphäre zwischen den Winden entlang des Elbstroms und den oberhalb gelegenen Parks und Wohnlandschaften in poetisch gediegener Weltabgewandtheit unter Buchen und Eichen zu schätzen wussten.
Die Familie Dehmel
Ab 1901 lebten Ida und Richard Dehmel in Blankenese, und ab 1912 in einem eigens für sie errichteten Haus (heute an der Richard-Dehmel-Straße) als Mittelpunkt eines selbst geschaffenen Gesamtkunstwerks aus Dichterhaus, Mobiliar, Kunstwerk, Archiv und Garten, das zum Treffpunkt für Künstler aus dem In- und Ausland wurde.
Das Künstlerpaar soll singend und tanzend durch Blankenese gezogen sein, und diese schöne Performance, wie ich finde, muss damals für erheblich mehr Beachtung gesorgt haben als es menschlich verursachte technische Geräuschkulissen heute tun würden.
Viele weitere Kunstschaffende kamen hinzu: Hans Henni Jahnn, Orgelbauer und Dichter, der das reetgedeckte sogenannte Kavaliershaus im Hirschpark (heute Restaurant „Witthüs“) bis 1959 bewohnte. Hier lebte auch die Bildhauerin und Autorin Vera Mohr-Möller, die eine Witze-Sammlung über „Klein Erna“ verfasste, aber auch die Keramikerin Gerda Heuckeroth hatte hier ihre Werkstatt.
Dei heutige Prominenz vor Ort
Dann in Hochkamps Dörpfeldstraße James Last, oder Hubert Fichte und Leonore Mau in der Othmarschener Dürerstraße. Nicht zu vergessen heute Otto Walkes und Rolf Zukowski hoch über dem Elbstrand wohnend, um von den vielen weiteren hier nur wenige zu nennen. Längst vergangen sind die Zeiten, als zwischen Nienstedten (1297 erstmals erwähnt), Bahrenfeld (1256) oder Rissen (1255) noch Welten lagen. Viele Menschen aus diesen Vororten Hamburgs hatten sich im Laufe ihres Lebens früher nie besuchen können, weil es kaum Verkehrsmittel gab oder diese viel zu teuer waren.
Auch Rissen, Lurup (1752) oder Wedel (1212) im fernen Schleswig-Holstein gehörten vor Zeiten von den Hamburger Elbvororten aus gesehen noch zu den Randgebieten. Eine Dame aus Blankenese erzählte mir neulich einmal, dass sie noch immer genau sprachlich zwischen einer Wedelerin und einer Blankeneserin unterscheiden könne.
Solche Informationen werden zum Beispiel beim Käseonkel auf dem Blankeneser Markt heute noch weitergegeben und gehören zur oralen Überlieferung der sozusagen ethnischen Verhältnisse der Elbvororte.
Aber wer schreibt sie auf? Und wieso übrigens Vororte von Hamburg? Für mich lag Hamburg immer schon bei Blankenese und nicht umgekehrt! Jedoch, aus einem ausgeprägten Regionalgefühl könnte auch identitärer Unsinn werden. Und so hebe ich mir dieses Gefühl als meine Heimat auf, was ich für natürlich halte. Die Frage, woher wir denn kommen, kann sich aus meiner Sicht nicht darauf reduzieren, Macht über „nicht von hier Kommende“ auszuüben. Das war in früheren Zeiten entschieden anders, und ich bin froh, dass ich das nicht erleben musste. Wenn ich könnte, würde ich mit Richard und Ida wieder singend durch die Straßen der Elbvororte ziehen.