4. Dezember 2023
Magazin-Tipp

„Ein Leben in zwei Welten“ – Interview mit Shmuel Havlin

Shmuel Havlin ist seit dem 19. Oktober Militärrabbiner in Hamburg. Hier spricht der in Israel geborene Geistliche über die Bedeutung der jüdischen Militärseelsorge und den Krieg in seinem Heimatland.

Shmuel Havlin trat im Oktober als zweiter Militärrabbiner der Bundeswehr seinen Dienst an. Schon bald soll es in der Bundeswehr fünf orthodoxe und fünf liberale Rabbiner geben. // Foto: Bundeswehr / Christian Gelhausen

Shmuel Havlin trat im Oktober als zweiter Militärrabbiner der Bundeswehr seinen Dienst an. Schon bald soll es in der Bundeswehr fünf orthodoxe und fünf liberale Rabbiner geben. // Foto: Bundeswehr / Christian Gelhausen

Rabbi Havlin, was bedeutet die Einrichtung eines Militärrabbinats für die jüdischen Gemeinden in Deutschland?
Wir schreiben Geschichte. Zwar gab es schon vor knapp 100 Jahren die Feldrabbiner im 1. Weltkrieg. Aber aufgrund der Geschichte gab es das seither nicht. Jahrzehntelang war es für die jüdische Gemeinde schwer vorstellbar, in die Bundeswehr zu kommen, verständlicherweise. Die Stelle ist wichtig, denn sie schafft durch Aufklärung Toleranz gegenüber dem Judentum.

Sie selbst wurden in Israel geboren. War es für Sie damals ein schwieriger Schritt, nach Deutschland zu gehen?
Allerdings. Aber ich suche in meinem Leben immer neue Herausforderungen.

„Hier kann ich viel mehr bewirken“

Worin besteht die Herausforderung in diesem Fall?
In Israel haben die Leute einen leichteren Zugang zu Rabbinern und zum Judentum allgemein. Man kann auch die kulturellen Gegenstände für Feiertage an jeder Ecke kaufen. Das war und ist  in Deutschland nicht der Fall. Wenn man sich hier an einen Rabbi wendet, stellt das für jemanden eine Verbindung zum Judentum her, die der- oder diejenige allein nicht herstellen kann. Deshalb war es für mich sehr wichtig, herzukommen. Hier kann ich vielmehr bewirken.

Welche Aufgaben haben Sie als Militärrabbiner?
Im Alltag stehe ich immer für die Seelsorge zur Verfügung, nicht nur für jüdische Soldaten, sondern für alle. Daneben sind wir auch für LKU und LKS zuständig. Das steht für Lebenskundlichen Unterricht und – Seminare. Dabei geht es um neutrale Themen wie „Menschenwürde“ und die Inklusion von Minderheiten, aber auch um Themen wie Sport und den Körper. LKU und LKS spielen zudem eine große Rolle bei der ethischen Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten.

Sie sind auch beratend tätig, etwa für Diensthabende, zum Beispiel, wenn es darum geht, dass an bestimmten Feiertagen nicht gearbeitet werden darf oder wenn es um koscheres Essen geht. Wie gestaltet sich das?
Das sind große Herausforderungen. Im Judentum gibt es verschiedene Bedürfnisse, die nicht immer leicht zu stillen sind. Wenn wir etwa über koscheres Essen oder den Schabbat sprechen, gibt es verschiedene religiöse Gesetze, die es bislang in der Bundeswehr nicht gab und somit auch keine klare Regel, wie wir damit umgehen können.

Ich kenne das Beispiel eines Soldaten, der in Norddeutschland stationiert ist und Anschluss an eine Gemeinde sucht. Aber so eine Möglichkeit existiert derzeit an seinem Standort nicht. Er hat sich an mich gewandt und ist bei mir herzlich eingeladen. Aber das kann keine offizielle Lösung für jeden Betroffenen sein. Daher schauen wir gemeinsam, was möglich ist. Im Militärrabbinat geht es schon allein aufgrund der Größe sehr familiär zu. Daher kriegen wir alles gut hin.

60 Bundeswehrstandorte mit Fragen zum Judentum

Sie sind für 60 Dienststellen zuständig. Wie bewältigen Sie diese Aufgabe?
Es ist ein Vorteil, dass wir einen zentralen Ort in der Führungsakademie der Bundeswehr haben. So können wir Präsenz zeigen und man kann uns kennenlernen. Es braucht Zeit, bis man mitbekommt, dass es das Militärrabbinat überhaupt gibt. Auch dafür sind LKU und LKS an den verschiedenen Standorten sowie hier sehr vorteilhaft.

Wir tun unser Bestes, um so viele Menschen wie möglich zu treffen und erreichbar zu sein. Aber wir sind auch sehr dankbar, dass uns viele Menschen besuchen. Das spart immens Zeit. Bei 60 Kasernen und den vielen Dienststellen wäre es auch einfach ein bisschen unrealistisch, das hinzukriegen. Wir fahren aber durchaus zu vielen Orten.

Sind an all diesen 60 Standorten Bundeswehrangehörige jüdischen Glaubens oder geht es mehr darum, dass sich dort Menschen befinden, die Fragen zum Judentum haben?
Ganz ehrlich, diese Frage können wir derzeit nicht beantworten, weil es keine offiziellen Angaben dazu gibt. Aber wir sind, wie gesagt, Ansprechpartner für jeden Menschen, nicht nur für Juden. Und das ist auch gut, denn viele Menschen sind neugierig. Sie suchen den Kontakt und möchten das Judentum kennenlernen. Das ist eine große Bereicherung.

Das heißt, es weiß keiner, wie viele Menschen jüdischen Glaubens in der Bundeswehr Dienst tun?
Es gibt bislang nur Schätzungen, aber es sind einige, die mich kontaktiert haben oder hier hergekommen sind. Darüber hinaus nutzen wir auch die Gelegenheit, wenn wir hier jüdische Feiertage zelebrieren, um ins Gespräch zu kommen. Alle sind eingeladen, mit uns zu feiern. Diese Menschen sehe ich als Multiplikatoren an, die über ihre Erfahrungen berichten können.

Amtseinführung von Rabbiner Shmuel Havlin (r.) an der Führungsakademie durch Militärbundesrabbiner Zsolt Balla. // Foto: Bundeswehr / Christian Gelhausen
Amtseinführung von Rabbiner Shmuel Havlin (r.) an der Führungsakademie durch Militärbundesrabbiner Zsolt Balla. // Foto: Bundeswehr / Christian Gelhausen

Hamburgs Landesrabbiner Shlomo Bistritzky sagte vor einiger Zeit, er halte das Militärrabbinat eher für ein symbolisches Amt. Aber Sie stellten schon fest, dass es genug zu tun gibt.
Es ist Neuland, daher gibt es noch vieles, was wir nicht wissen. Was wir wissen, ist, der Bedarf besteht. Nicht nur von jüdischen Kameraden. Doch selbst als Symbol wäre es eine wichtige Einrichtung.

Die Fragen nach dem Angriff der Hamas auf Israel

Haben sich die Fragen an Sie geändert, seit dem Angriff auf Israel durch die Hamas?
Viele fragen natürlich, wie geht es dir, und wie geht es deiner Familie? … Wir leben aktuell in zwei Welten. Ich habe zwei Kinder in Israel, die dort zur Schule gehen. Ich erlebe alles mit, wenn wir zum Beispiel telefonieren. Und ich sage Dinge wie: „Geht sofort in den Panikraum.“ Oder: „Ihr dürft nicht rausgehen. Ihr dürft nicht zu euren Freunden gehen. Ihr müsst heute zu Hause bleiben“.

Der Großteil meiner Familie ist in Israel, viele meiner Bekannten sind dort, zum Teil auch an der Front. Wie gesagt, fragen viele, wie es uns geht und zeigen Solidarität. Das finde ich sehr wichtig.

Dann möchte ich Sie auch fragen: Wie geht es Ihnen im Moment?
Ich verfolge die Nachrichten. Aber ich versuche, das nicht so oft zu machen, damit ich arbeitsfähig und „normal“ bleiben kann, weil die Geschichten einfach zu grausam, zu schlimm sind. Ich versuche, das ein bisschen zu reduzieren, soweit es geht. Ich bin in engem Kontakt mit meinen Kindern und der ganzen Familie. Aber noch mal, wir leben in zwei Welten.

„Der Antisemitismus auf den Straßen“

Kamen bereits Soldatinnen und Soldaten auf Sie zu, die wegen des Konflikts im Nahen Osten um Seelsorge baten?
Nicht weil sie durch Freunde oder Familie betroffen wären, aber aus allgemeinen Gründen: Weil das ganze jüdische Volk angegriffen wurde. Diesen Antisemitismus erleben wir nun auch in Deutschland. Das Thema kommt wieder auf. Es ist auf den Straßen spürbar. Damit wächst auch der Gesprächsbedarf.

Haben Sie in Deutschland Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht?
Nicht in Hamburg, aber andernorts schon. Wir sprechen hier nicht darüber, ob mich jemand angespuckt hat, kleine Vorwürfe machte oder mich beschimpft hat. Das ist schon oft passiert, da ich durch mein Äußeres sofort als Jude erkennbar bin.

Aber es gibt auch andere Erfahrungen. Am Schabbat gehe ich zum Beispiel zu Fuß zur Synagoge. Da erlebt man ab und zu etwas. Viele fragen etwas zum jüdischen Glauben, was mir gefällt. Aber tatsächlich gibt es auch antisemitische Äußerungen. Gerade jetzt spürt man den Israel bezogenen Antisemitismus. Das macht mir Sorgen, weil es schnell eskalieren kann.

Wo findet ein Seelsorger wie Sie Seelsorge?
Ich suche immer Trost in der heiligen Schrift. Dort haben wir Wochenabschnitte. Tatsächlich ging es in der vergangenen Woche um den ersten entführten Menschen der Welt: Abrahams Neffe. Es war ein Zufall. Wenn ich im Studium der Tora tiefer gehe, erklärt es mir vieles. Es gibt auch rabbinische Autoritäten, an die wir uns wenden können. Für mich ist das natürlich auch Bundesrabbiner Balla, mit dem ich außerdem befreundet bin.

Die Angst im Alltag

Sie sind nun Teil der Streitkräfte. Verändert das Ihre Sicht auf den Nahostkonflikt und militärische Fragen?
Ich war vor rund zwei Monaten auf einer Dienstreise in Israel. Dort nahm ich an einem Kurs für Militärrabbiner teil. Ich war drei Wochen dort, auch an der Grenze zum Gazastreifen. Wir haben viele Dinge gelernt, viele Mitglieder der israelischen Armee getroffen und mit ihnen gesprochen. Ich nahm Aspekte wahr, die ich vorher nicht kannte. Und die Fragen, die man sich auch innerhalb der Bundeswehr stellt, sind ganz andere Fragen als außerhalb dieses Bereichs. Dort geht es um ein anderes Verständnis der Dinge. Das spielt eine große Rolle.

Seit der Gründung des Staates Israels lebt die Bevölkerung dort konstant in Angst. Wie wächst man als Israeli mit dieser Angst auf?
Nach gewisser Zeit wird es zum Alltag. Man lebt halt einfach so. Die Kinder gewöhnen sich sehr schnell daran. Ist es ideal? Natürlich nicht. Wir würden gerne in Frieden mit unseren Nachbarn leben. Aber so ist es leider nicht.

Rabbi Havlin, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Shalom.

Zur Person:

Shmuel Havlin
Der orthodoxe Geistliche Shmuel Havlin ist einer von derzeit sechs Militärrabbinern der Bundeswehr. Er nahm Anfang Oktober als erster Militärrabbiner in Hamburg seinen Dienst auf. Havlin ist für 60 Dienststellen in Norddeutschland zuständig. Der gebürtige Israeli hat seinen Dienstsitz an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Er lebt mit drei seiner fünf Kinder und seiner Ehefrau in Bremen. Seine Ausbildung absolvierte Havlin in Israel und New York. Ordiniert wurde er in Atlanta (Georgia).
„Shalom“ ist der traditionelle Willkommens- und Abschiedsgruß in der jüdischen Kultur. Er bedeutet „Frieden“.

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