Wer nach zehn Jahren Abwesenheit am Hauptbahnhof an einem Samstag aus dem Zug steigt und die Spitaler Straße entlang bummelt, der erwartet nach all den Medienberichten ein trauriges Bild: Menschenleere Fußgängerzonen, durch Pappe erblindete Schaufenster …
Tatsächlich herrscht im Juli 2023 geschäftiges Treiben rund um die Mönckebergstraße, und der eine oder andere mag versucht sein zu fragen: Wo ist das Problem?
Der Handelsverband Deutschland (HDE) gibt die Antwort: Der Schein trügt. Allein in den letzten zehn Jahren schrumpfte die Anzahl der Geschäfte in Deutschland um etwa 60.000. 2015 wurden rund 373.000 gezählt, heute sind es noch 311.000 (siehe Grafik auf S. 22). Geht es in diesem Tempo weiter, dann werden sich „Monokulturen“ wie die Hamburger Innenstadt bald in eine Betonwüste verwandelt haben. Und es gibt Gründe dafür, dass es genauso weiter geht.
Konsumgewohnheiten
Die Corona-Pandemie hat viele Online-Muffel bekehrt. Der Kauf bei Amazon & Co. ist auch für ältere Deutsche Normalität. Die neue Bequemlichkeit hat zu massiven Umsatzverlusten beim stationären Handel gesorgt. Die Nachholeffekte, auf die viele Händler gesetzt haben, bleiben indessen aus. Schuld daran ist vor allem die Teuerung. Statt den Konsum der letzten zwei Jahre nachzuholen, müssen die Kunden höhere Energiepreise stemmen und fahren, wenn noch etwas übrig ist, lieber in den Urlaub. Trendforscher beobachten gerade bei jüngeren Deutschen auch einen generellen Wandel im Konsumverhalten. Das hemmungslose Shoppen, das dem Handel in vergangenen Jahrzehnten als Selbstverständlichkeit galt, hat mächtige Kritiker bekommen. Zwar sind noch viele Lippenbekenntnisse zu hören, aber ganz folgenlos wird der Fokus auf Nachhaltigkeit und Ökologie nicht bleiben.
Hohe Mieten und Betriebskosten
Nicht alle Probleme kommen vonseiten der Kunden. Viele Geschäfte, gerade kleinere, ächzen unter hohen Gewerbemieten. Hier gibt es einen entscheidenden Unterschied zu den Mieten von Wohnimmobilien: Während Mieterhöhungen bei Letzteren streng reglementiert und begrenzt sind, kann der Vermieter einer Gewerbefläche die Miete über Nacht um 100 Prozent anheben. Und genau das geschieht derzeit. Detlef Stechern etwa, Inhaber des Antiquariats Halkyone in Altona, musste kürzlich nach 40 Jahren schließen. Zwar zeigten die Vermieter ein Einsehen, wollten erst um 150 Prozent erhöhen und gaben sich dann mit 100 zufrieden. Aber auch das war nicht zu erwirtschaften.
Solche Erhöhungen sind legal, mit dem Argument der Marktregulierung. Angebot und Nachfrage werden es richten. Dies erscheint zunehmend fragwürdig und so gibt es deutliche Kritik an der bisherigen Praxis. Zuletzt hatten sich Grüne und Linke auf Bundesebene für eine Mietpreisbremse bei Gewerbeflächen ausgesprochen. Bisher jedoch ohne Erfolg.
Zu den mehr oder weniger unberechenbaren Mieten kommen nun horrende Betriebskosten und Löhne. Alleine die Beleuchtung und Heizung einer großen Ladenfläche erreicht eine völlig neue Größenordnung. Aushilfskräfte lassen sich nicht länger mit zehn Euro abspeisen, der Mindestlohn verlangt mindestens zwölf Euro pro Stunde: Eine Erhöhung von 20 Prozent.
Personalmangel
Über den bundesweiten Mangel an Arbeitskräften wurde an dieser Stelle bereits ausführlich berichtet, daher nun in aller Kürze: Der Handel ist stark betroffen. Betriebe wie Feinkost Lindner geben explizit fehlendes Personal als den Hauptgrund für Filialschließungen an; so musste die Niederlassung in Winterhude nach nur zwei Monaten aufgeben. Einkaufszentren wie das Altonaer Mercado reagieren auf den Personalmangel mit verkürzten Öffnungszeiten, was wieder jene Kunden fernhält, die nur früh oder spät Zeit zum Einkaufen haben.
Verkehrsberuhigung
David Erkalp, Fachsprecher für Attraktivitätssteigerung in der Innenstadt der Hamburger CDU-Fraktion meint, einen wichtigen Grund für sinkende Umsätze erkannt zu haben: Verkehrsberuhigung. Er forderte im Juli diesen Jahres eine Wiedereröffnung des Jungfernstiegs für den Individualverkehr. Der Geschäftsmann verweist auf steigende Anmeldezahlen bei Autos und sagte dem „Hamburger Abendblatt“: „Wir können das doch nicht einfach ignorieren. Die Menschen mögen Autofahren einfach.“
Das Argument wirkt etwas aus der Zeit gefallen. Die Leute mögen auch Zigaretten und Alkohol, deren Konsum durch Steuern und Altersgrenzen beschränkt ist. Wann immer die Leute etwas mögen, das der Allgemeinheit schadet, gibt es staatliche Rahmenbedingungen.
Für einzelne Branchen kann der fehlende Verkehr aber durchaus Nachteile bringen. David Erkalp ist im Hauptberuf Schmuckhändler. Seine Klientel fährt nicht unbedingt gerne U-Bahn. Und auch lokale Quartiere wie die Othmarschener Waitzstraße weisen nicht ohne Grund darauf hin, dass gewisse Käuferschichten ausschließlich das Auto verwenden. Die Senioren in den Schaufenstern der Einkaufsstraße haben traurige Berühmtheit erlangt, sorgen zwischen den Unfällen aber auch für hohe Umsätze.
Abseits der Klientelpolitik ist nun aber fraglich, ob die Stärkung des innerstädtischen Autoverkehrs tatsächlich ein realistischer Lösungsansatz sein kann. E-Commerce, hohe Mieten, gestiegene Energiekosten, steigender Mindestlohn, Personalmangel, veränderte Konsumgewohnheiten – nichts von alldem lässt sich auch nur ansatzweise mit einer „Re-Motorisierung“ der Innenstädte lösen. Eine mit breiten Straßen, Fußgängerbrücken und Parkhäusern vollgestellte Innenstadt mag auf einer Postkarte aus den 70er-Jahren noch zupackende Energie versprüht haben, es ist aber äußerst schwer vorstellbar, dass ein solches Szenario 2030 noch überzeugt.
Die Vorschläge, etwa den Jungfernstieg wieder für den Autoverkehr zu öffnen, wirken daher eher planlos als probat. Rationaler erscheinen Pläne, die auf eine langfristige Wiederbelebung der Innenstadt setzen: Durch Wohnungen.
Wer sich alte Fotos oder Stiche ansieht, bemerkt: Innenstädte waren früher ein Mix aus Gewerbe und Wohnbevölkerung. In der Hamburger Innenstadt lebten 1880 über 170.000 Menschen. Heute sind es weniger als 2.500. Mit anderen Worten: 167.500 potentielle Kunden sind weggezogen.
Was aber steht einer „Renaturierung“ der Innenstadt entgegen? Der Hauptgrund sind die angesprochenen Gewerbemieten. Diese liegen grundsätzlich weit über den Mieten für Wohnraum. Eine Gewerbeimmobilie ist somit wesentlich wertvoller als ein Wohnhaus. Wer etwa ein Kontorhaus umwidmen will, verliert Geld und sieht sich einem aufwendigen Genehmigungsprozess gegenüber.
Überlässt man eine Innenstadt also dem Markt, dann muss die Lage erst desolat werden. Erst wenn die zu erzielenden Gewerbemieten auf dem Niveau von Wohnmieten ankommen, dürfte eine nennenswerte Umwidmung zu beobachten sein. Genau das aber könnte passieren, denn Experten befürchten eine Kettenreaktion. Zwei oder drei Leerstände nagen bereits ordentlich an der Attraktivität eines Quartiers, was die verbliebenen Geschäfte schwächt. Irgendwann kippt das ganze Gefüge in Richtung einer Brachlandschaft, die Passanten explizit meiden.
Genau das ist vielerorts zu beobachten und es mag weniger der Ausdruck einer kurz- oder mittelfristigen Krise sein, als vielmehr ein drastischer Strukturwandel, der letztlich zu einer bewohnten Innenstadt führen könnte. Erst mit einer nennenswerten Wohnbevölkerung haben Gewerbebetriebe eine neue Chance – Betriebe, deren Konzept auch in modernen Zeiten aufgeht: Die Buchhandlung mit Veranstaltungsraum, der kleine Supermarkt mit Mittagstisch, der Schreibwarenhändler mit Co-Working-Space. Denn auch der Einzelhandel wird sich gewaltig bewegen müssen.
Der Aufschrei war groß, als der Büromarkt Hansen in der Schanze im März nach 92 Jahren aufgab. Der Grund: Umsatzrückgang während der Pandemie. Dabei ist die Schanze voll mit kleinen Gewerbebetrieben, Freiberuflern etc., die häufig bei Hansen einkaufen, während der Pandemie auch gerne im Hansen-Online-Shop. Der aber funktionierte nicht. Die Lieferung dauerte auf einer Luftlinie von 100 oder 200 Metern häufig mehrere Tage. Ein oder zwei Lastenfahrräder hätten den Laden vielleicht retten können.
Auch das ständige „Haben wir gerade nicht da“ stößt bei Kunden auf immer weniger Verständnis. Wer ein Fachgeschäft in einer eher technischen Branche betreibt oder mit Kleidung handelt, der sollte im Jahr 2023 in der Lage und Willens sein, Kundenwünsche binnen 24 Stunden zu befriedigen. Der Buchhandel macht es seit Jahren vor, ebenso Apotheken. Selbst antiquiert erscheinende Betriebe wie Ferd. Schüllenbach (St. Pauli), der seit über 150 Jahren Eisen- und Haushaltswaren verkauft (und von außen wirklich nicht einladend aussieht), hält sich unbeirrt, weil die Kunden wissen: Das klappt jetzt.
Gefordert ist also auch vom Handel Beweglichkeit, aber die kommt mit den Jahren hin und wieder abhanden. Denn nun sind wir beim letzten Grund für das Ladensterben angelangt, dem häufig zu wenig Beachtung beigemessen wird: der Demografie. Auch das lokale Traditionsgeschäft erreicht das Ende seiner Lebenserwartung, wenn der Inhaber, dann häufig über 70, schlicht keine Böcke mehr hat. Hier und da wird noch ein Nachfolger gesucht, aber wer hat wirklich noch Lust auf Samstagsarbeit und ein bis zwei Wochen Urlaub pro Jahr? Das Phänomen gewinnt angesichts einer rasant alternden Erwerbsbevölkerung unweigerlich an Bedeutung und lässt sich nach Meinung von Experten nur durch langfristige Maßnahmen wie verstärkte Einwanderung lösen.