Die Zahl markiert einen traurigen Rekord: Laut Global Trends Report der UN waren Ende 2020 82,4 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Der Trend zeigt dabei steil nach oben. 42 Prozent dieser 82,4 Millionen sind Kinder und Jugendliche. Sie kommen aus so unterschiedlichen Ländern wie Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan, Myanmar und nun aus der Ukraine.
Diese Auflistung zeigt eines mit brutaler Deutlichkeit: Der Zufall bestimmt, wer flüchten muss und wer nicht. Ein friedliches Leben an einem Ort ist das Ergebnis einer geografischen Lotterie, die Jahr für Jahr erneut stattfindet. Keine Region der Welt ist in der Geschichte verschont geblieben, jeder kann erneut an die Reihe kommen.
Für diese Erkenntnis braucht es indessen keinen UN-Bericht. Die Zeugnisse über Flucht als Grundkonstante der Menschheitsgeschichte finden sich in antiken Quellen ebenso wie in der Bibel. Sie finden sich in Geschichtsbüchern in so großer Zahl, dass jede Generation, die ein Leben lang Ruhe und Frieden erlebt, instinktiv ahnt: Glück gehabt!
Der Blick in die Geschichte der Flucht
Der Exodus, also der Auszug der Israeliten aus Ägypten, wie er in der Bibel geschildert wird, ist wahrscheinlich eher Legende als reale Geschichte. Dies ist zumindest die herrschende Lehrmeinung unter Historikern. Das macht es jedoch nicht besser. Angenommen wird vielmehr, dass die Exodus-Erzählung auf eine Vielzahl von Fluchtbewegungen hinweist, immer aufgrund eines Gewaltherrschers.
Historiker hinterfragen mittlerweile auch den Begriff „Völkerwanderung“. Das Wort lässt eher an eine geordnete und langsame Reise von einem Territorium ins andere denken. Die historische Völkerwanderung fand in Mittel- und Südeuropa zwischen 375 und 568 n. Chr. statt. Germanische Stämme bewegten sich in Richtung des Römischen Reiches auf der Flucht vor den Hunnen im Osten. Wir sehen also, wieder ist Krieg die Ursache und wir sehen die Parallelen. Man muss nur Hunnen durch Putins Armee ersetzen und das Römische Reich mit Europäischer Union.
Die Jahrzehnte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg waren eine von Vertreibung und Flucht dominierte Epoche. Jochen Oltmer, Professor am Institut für Migrationsforschung an der Universität Osnabrück, spricht in einem Aufsatz über das „Jahrhundert der Flüchtlinge“. In seiner „Kleine Globalgeschichte der Flucht im 20. Jahrhundert“ konstatiert Oltmer: „Der Zweite Weltkrieg soll allein in Europa Schätzungen zufolge 60 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Deportierte mobilisiert haben und damit mehr als zehn Prozent der Bevölkerung des Kontinents.“
Man beachte die Zahl, die in ihren Dimensionen den aktuellen Zahlen nahekommt, damals aber eben nur für Europa galt und bezogen war auf eine kleinere Weltbevölkerung.
„Wir schaffen das!“
Angela Merkel hatte recht. Während der Flüchtlingskrise 2015/2016 kamen allein im ersten Jahr rund 890.000 Menschen nach Deutschland. Eine bisher nie erlebte Zahl, die das Land politisch erschütterte, den Rechten Munition lieferte, logistisch aber bewältigt wurde.
Wer die deutsche Flüchtlingshilfe in diesen beiden Jahren heute als Misserfolg wertet, der hat ein AfD-Parteibuch oder nimmt die Realität nicht mehr klar zur Kenntnis. Die deutsche Gesellschaft, die Wirtschaft und das Sozialsystem haben sich als wesentlich robuster erwiesen, als von vielen angenommen. Crash-Propheten haben exzellent verdient, lagen aber falsch: Der große Zusammenbruch ist ausgeblieben.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Bürger und Behörden auf die Nachrichten aus der Ukraine mit nüchterner Entschlossenheit reagieren. Die Container werden wieder aufgestellt, die Verwaltung findet einfache Lösungen mit einer Geschwindigkeit, die noch in den 90er Jahren undenkbar gewesen wäre.
Die Ökonomie
Wer angesichts der menschlichen Tragödie auf Wirtschaftszahlen verweist, kann sich den Vorwurf einhandeln, herzlos oder gar zynisch zu sein. Dabei verkennt man aber schnell, dass westlich orientierte Demokratien im Kampf gegen Despoten eine Trumpfkarte in der Hand haben: ihren Reichtum. Während Russland mit einem BIP von der Größe Italiens gerade bankrott geht, hat Deutschland eine Flüchtlingskrise gestemmt, anschließend eine Pandemie und jetzt wieder eine Flüchtlingskrise. Wenn Fehler der Vergangenheit vermieden werden, Migranten also schnell arbeiten dürfen, dann werden die Ukraineflüchtlinge zu einem Wohlstand beitragen, von dem ganz Europa am Ende profitiert. Aus ökonomischer Sicht ist jetzt daher nicht die Zeit, Geschäfte aufzuschieben, Investitionen zu vertagen. Der Krieg könnte noch Jahre lang lodern oder zumindest schwelen. So lange kann niemand warten, denn gerade in Zeiten wie diesen muss der Laden laufen.
Flucht in die Zukunft – ein Ausblick
Experten, etwa von den Vereinten Nationen, sind eher pessimistisch. Die Weltgemeinschaft zeigt sich weiterhin unfähig, Krieg als große Fluchtursache auszuschalten. Hinzu kommen Phänomene wie der Klimawandel. Die Weltbank prognostiziert, dass Dürren, Hochwasser, steigende Meeresspiegel und Missernten bis zum Jahr 2050 rund 216 Millionen Menschen zur Emigration zwingen werden. Dazu kämen Flüchtlinge aufgrund von Armut und Krieg. Die Welt sähe sich also mit einem Flüchtlingsstrom konfrontiert, der einen Kontinent bevölkern könnte.
Die Weltbank stellt aber ebenso fest, dass bei ausreichender Senkung der Treibhausgase, Wiederherstellung vom Ökosystem und weiterer Maßnahmen die Zahl um bis zu 80 Prozent gesenkt werden könnte.