18. Dezember 2023
Magazin-Tipp

Tims Thesen: Volles Risiko auf dem Fahrrad

An dieser Stelle erscheint jeden Monat Tim Holzhäusers Glosse mit einer gewagten These. Diesen Monat geht es um das alltägliche Verkehrschaos.

Autor Tims Thesen

Redaktionsleiter Tim Holzhäuser

Tims Thesen im Dezember 2023: Letztens wurde ich beinahe Zeuge eines tödlichen Radfahrerunfalls. Ich spazierte etwas abseits und habe den Unfall selbst zum Glück nicht gesehen, wohl aber die Feuerwehr danach und natürlich die Pressemeldungen zum Thema. Ein Reisebus war abgebogen und hatte den 33-Jährigen übersehen.

Was für ein Wahnsinn. Abbiegende LKW und Busse haben in diesem Jahr allein in Hamburg zehn Radfahrerinnen und Radfahrer getötet. Jeder Kleinwagen ist mit der Sensorik einer mittleren Raumfähre ausgestattet, aber eine automatische Bremsung in solchen Fällen ist angeblich schwierig, teuer oder garstige Ideologie.

Diese Unfälle wirken umso mehr aus der Zeit gefallen, als da Risikominimierung eine Art Volkssport geworden ist. Wir erinnern uns: Fahren ohne Anschnallgurt, Motorradfahren ohne Helm, Fahrradfahren ohne Helm, Zigaretten ohne Filter und Bierpause auf dem Bau um 11 Uhr waren vor wenigen Jahrzehnten allgemein akzeptierte Praxis.

Heute werden Airbags für Radfahrer erprobt. Ein Glas Apfelsaft gilt als Softdrink, Rotwein als Nervengift. Die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen nimmt ebenso zu wie die Vorschriften über etwaige Risikostoffe in Farbe, im Spielzeug, im Geschirr etc. pp. Warnhinweise versetzen uns in permanente Alarmstimmung und verhindern, dass wir die Verpackung des Fernsehers essen oder Unterhosen im Wasserkocher waschen.

Beinahe-Unfälle am laufenden Band

Nun wieder der Blick zurück auf den Verkehr. Letztens saß ich vor einer Eckkneipe in der Abendsonne mit freiem Blick auf die Kreuzung Fruchtallee/Weidenallee/Bellealliancestraße und Hoheweide. Zwölf Autospuren bilden ein Knäuel mit Fahrradwegen, Abbiegern in alle Himmelsrichtungen, Ampeln und festen Zeichen. Hupen und Beinahunfälle im 20-Minutentakt. Fahrradfahrer werden in die Fußgänger gelenkt, die gerade bei Grün die Ampel überqueren, entkommen selbst wieder nur knapp Lastwagen.

Und dann sieht man Helikopter-Eltern, die ihren kleinen Kindern Helme aufsetzen und munter mit ihnen losdüsen in dieses Chaos …
Wie ist das möglich? Warum toleriert eine derart vorsichtige Gesellschaft wie die unsrige diesen wahnwitzigen Mix von Verkehrsmitteln? Im Schienenverkehr wird ernsthaft erwogen, eine Glaswand zwischen U-Bahn und Bahnsteig zu installieren. Und fünf Meter weiter oben hämmert der Radfahrer wütend gegen den Bus, der ihn gleich umbringen wird.

These: Wir tolerieren dieses Chaos, weil es vordergründig nicht anders geht. Die sogenannte Verkehrswende zulasten des Autos ist eine vernünftige Sache, aber sie müsste entweder auf einer echten Verdrängung des Autos basieren oder aber die verschiedenen Verkehrsmittel trennen.

These zwei: Unseren Nachkommen wird die derzeitige Verkehrsführung ebenso irrsinnig vorkommen wie uns ein Motorradfahrer, der mit einem Bier in der Hand ohne Helm die Einbahnstraße in falscher Richtung entlang knattert …
Da ist noch einiges zu tun.

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