26. Januar 2023
Nachrichten

Das Ende der Kneipe

Erst kamen sie in Verruf, dann aus der Mode: die guten alten Eckkneipen. In früheren Zeiten waren sie das verlängerte Wohnzimmer. Wichtig war das vor allem für diejenigen, die allein waren oder ein offenes Ohr suchten. Viele dieser Lokale sind verschwunden. Feststeht, dass sie über Jahrzehnte Bedeutung für ihren Kiez hatten. Die Geschichte dieser Kneipen wollen wir hier nachzeichnen.

Wolfgang Lau, hier noch als Barkeeper auf der „Hanseatic“, später Wirt im Nienstedtener Krug, den es nicht mehr gibt. – Geschichte der Kneiep

Wolfgang Lau, hier noch als Barkeeper auf der „Hanseatic“, später Wirt im „Nienstedtener Krug“, den es nicht mehr gibt.

 

Rauchschwaden hängen über dem Zapfhahn. Die Luft ist voll mit Stimmengewirr. Untermalt vom verhaltenen Sound aus der Music-Box, die zwischen Gerry Raffertys „Baker Street“ oder dem schunkelnden „Herzilein“ der Wildecker Herzbuben gefordert ist. Der Stimmung in der urigen Kneipe tut das keinen Abbruch. Alle Tische sind besetzt, am Tresen gehen laufend Bestellungen für ein nächstes Bier ein.

Das Publikum ist, soziologisch betrachtet, nur schwer greifbar. Das gepflegte Ratsherrn-Pils rinnt dem Chefarzt ebenso gepflegt über die Lippen wie Horst, dem Maurer, oder Horst, dem Künstler, der als Extravagant mit Nachname Janssen seine Eskapaden am Tresen auslebt („Hier hast du’n Hunderter, setz dich mal woanders hin!“) und dafür schulterhebend zur Kenntnis genommen wird.

In der Gaststätte Zur Linde an der Dockenhudener Straße in Blankenese herrscht Hochstimmung. Der Laden ist wieder einmal voll und Uwe am Zapfhahn hat gut zu tun. Das hat er eigentlich immer, denn irgendwie muss der größte Bierumsatz westlich der Alster ja auch zustande kommen.

Die Wirtsleute Uwe und Helga Schell, uneingeschränkte Superstars der Kneipenszene in den 1980er und 1990er Jahren, bieten auf ihre mürrische Art dem Gast personifizierte Erlebnisgastronomie, bevor es den Begriff überhaupt gab. Marketing und Interieur beschränken sich auf eine Schiefertafel („Die Linde empfiehlt heute: Woanders essen zu gehen!“) und auf einen ernüchternden Resopaltresen samt schlichtem hölzernen Gestühl. Neonlicht ätzt die Szene ins Realistische. Den Weg zur längsten Pinkelrinne (ebenfalls westlich der Alster) findet der Neuling auf die Frage, wo denn die Toilette sei, mit dem einfühl-samen Hinweis: „Da, wo es nach Niere riecht …!“

Die Kneipen-Hochburgen im Westen

Neben Blankenese zählte in den glorreichen Tagen des Kneipenwesens auch Nienstedten zur Hochburg der Zapfhähne. In der Gaststätte Schlag zeigte sich nicht nur jeder Stuhl besetzt, mangels Tresen reihten sich die Gäste mit Bierchen in der Hand auf der verbliebenen Freifläche dicht an dicht. Zigarette, Bier und Bürgerliches aus der Küche, kombiniert mit den Themen des Tages, der aktuellen Befindlichkeit oder den Neuigkeiten aus dem Who is Who der Szene. Lissi und Manni, die Wirtsleute mit ähnlichem Status wie die Blankeneser Chefs der Linde, waren so etwas wie die Herbergseltern der Elbvororte.

Das seinerzeit noch völlig unbezweifelte Rauchen war höchst gesellige Beigabe und atmosphärisch bedeutend wie die Blume auf dem Frischgezapften. Die seltene Spezies der Nichtraucher kommentierten („Irgendwo kommt noch Sauerstoff durch!“) beschwerdefrei die Rauchschicht unter der nikotingefärbten Stuckdecke.

Was derb und ungehobelt durch das Gasthaus strömt, macht die Kneipe an sich zu Hort und Keimzelle geselliger Kommunikation. Am Tresen werden Firmen gegründet und Pleiten begossen, neue Partnerschaften eingegangen und alte Verbindungen aufgelöst. Ehen werden vorbereitet und Scheidungen eingeleitet, Freunde wieder zu Bekannten und Bekannte endlich zu Freunden.

Viel zu erzählen hatte auch Hein Wiese („Februar, Jaguar, Kaviar”), der selbst nie eine eigene Wirtschaft besaß, aber als „Tabletteur” des Westens im „Köpi” bei Walter Matzke zapfte („Schaumburger Festspiele”) und viele private Engagements erhielt.

Die „Stammtischhohheit“

Irgendwie ruht der Gast jener Jahre in sich selbst. Eine werbliche Ansprache zum Besuch dieser oder jener Gastronomie ist nicht notwendig und auch nicht üblich. Die Menschen an sich stehen sich näher und sind – mehr oder weniger – bereit zum Austausch. Aber vor allen Dingen: Sie finden die offenen Ohren für ihre Gedanken, den unproblematischen Austausch oder auch die politische Auseinandersetzung über die bewegenden Themen des Alltags. Die „Stammtischhoheit“ spielte eine markante Rolle, gab sich aber auch Chancen und Gelegenheiten zur Selbst­ironie.

Mainstreamforscher fanden unvergleichliche Möglichkeiten vorherrschender Meinungen, wenn sie sich denn an die Tresen der deutlich frequentierten Kneipen gesellten. Ähnliches Verhalten lockerer Zusammenkünfte wiesen auch die Treffs ausländischer Gastarbeiter auf, die sich mit Vorliebe auf den Bahnhöfen zum Stelldichein und Austausch trafen. Erst die spätere Einrichtung der „Kulturclubs“ erwies sich für die Heimatlosen als solidere Geselligkeitsalternative.

Mit dem Ende der Kneipen fühlten sich nicht wenige am Feierabend heimatlos, ja gar orientierungslos. Ohne Zweifel hatten die Wirtshäuser eine starke Position im sozialen Austausch. Ganz zu schweigen von einer nicht zu übersehenden Anzahl einsamer Gäste, für die die Kneipenwelt auch so etwas wie Familienersatz bot.

Naheliegend für das unaufhaltsame Sterben der kleinen Gastronomie ist sicherlich das Rauchverbot und die Entwicklung der digitalen Kommunikation. Nachfolgende Generationen entdeckten andere Formen gastronomischen Zusammenkommens. Die Linde in Blankenese gibt es immer noch, ist jedoch dem veränderten Zeitgeschmack angepasst, deutlich umgebaut und spricht ein anderes Publikum an.

Der Beginn der Kneipenkultur

Was auch nicht wundert: Zu Beginn waren Kneipen Orte für Gewerkschaften, Kommunisten und Sozialdemokraten, weshalb sie der preußischen Regierung verhasst waren. Dann wurden die Lokale Orte für die Unterschicht, Malocher, die hier vor beengten Wohnungen flüchten konnten. Erst später kam die Mittelschicht hinzu. Diese Schichten existieren in dieser Form nicht mehr, meint Soziologe Thomas Krämer-Badoni zum Kneipensterben. Daher fehlt heute der gute alte Thekentempel, der für eine gewisse Zeit Menschen aller Couleur zusammenbrachte.

Das Gros der Gesellschaft hat für diese Orte keinen Bedarf mehr. Ausnahmen bestätigen die Regel. Vor allem die Hafenkneipen sind wegen ihres Kultcharakters noch immer beliebte Anlaufpunkte. Dazu zählen wahre Schätze, wie der Treffpunkt Kaiserhafen (Bremerhaven), wo Auswanderer früher ihr letztes Bier auf europäischem Boden tranken – daher auch der Name „Die Letzte Kneipe vor New York“. So wie dieses Lokal überlebte auch manches Kleinod in Hamburg, etwa Zur Scharfen Ecke oder Erika’s Eck – Eckkneipen im wahrsten Sinne des Wortes und beide auf St. Pauli.

„Man sollte sie unter Denkmalschutz stellen“

Vielleicht leben die Totgeglaubten doch länger oder sie müssten es zumindest. Das meint auch der Experte Jens Mecklenburg, Herausgeber des Online-Magazins „Nordische Esskultur“. Für ihn sind Hafenkneipen schützenswerte soziale Biotope. Er sagt: „Es gibt nicht mehr viele Orte, wo unterschiedliche soziale Milieus zusammenkommen, friedlich zusammensitzen, reden und feiern. Hafenkneipen dürfen nicht aussterben, sie haben eine soziale Funktion, sind Ankerplätze für die Seele. Zur Not sollte man sie unter Denkmalschutz stellen.“

Vergleichbar mit Kneipen wie dem Ratsherrn-Eck oder Bei Büsing in Nienstedten sind die Hafenkneipen nicht direkt. Sie liegen an belebteren Plätzen und konnten durch Laufkundschaft sowie Nostalgie überleben. Andernorts verschwanden solche „Denkmäler“ und damit viele Erinnerungsstätten. Heute täten mehr solcher entschleunigten Nischen vielleicht wieder gut. Orte, wo sich Gott und die Welt allabendlich sagen, „danke fürs Zuhören“ oder „hast ja Recht“.

Ein jegliches hat halt seine Zeit. Dass die gute alte Kneipenkultur der Zeit zum Opfer fiel, darf zumindest bedauert werden.

 

Das Kneipen-Aus über die Jahre in den Elbvororten

Eine unvollständige Übersicht:

  • Blankenese:
    • Zur Linde, Dockenhudener Straße, Wirtsleute Helga und Uwe Schell, (hier ist allerdings eine neue Linde für ein neues Publikum entstanden)
    •  Zur gemütlichen Ecke, Dockenhudener Straße, später Evergreen, heute Restaurant Rio Grande
    •  Deutscher Krug, („Germanen-Tasse”), Blankeneser Land­straße, Wirtin: Edith Zwiefel, heute Fitness-Center
  • Flottbek:
    • To’n Peerstall, Hochrad, Wirtin Katharina Baumgartner, aktuell Leerstand in ihrem Lokal
    • Am Jenischpark, auch: Bei Beese, Wirtsleute: Wilma und Horst Beese, heute Wohnhaus-Neubau
  • Nienstedten:
    • Gaststätte Schlag, Rupertistraße, Wirtsleute: Lissi und Manni Schlag, aktuell Leerstand
    •  Bei Büsing, bei der Nienstedtener Kirche, Wirt: Heinz Büsing, heute Physiotherapie
    •  Nienstedtener Krug, Nienstedtener Marktplatz, Wirtsleute: Irmi und Wolfgang Lau, heute Galerie
    •  Ratsherrn Eck, Wirt: Klaus Küster, heute Wohnhaus-Neubau

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