Nach der Wahl ist vor der Wahl. Das ist weit mehr als eine laue Fußballanspielung: Millionen von Wählerinnen und Wählern müssen sich fragen, ob ihre vergangene Wahl richtig war. Wurden die Versprechen eingelöst? In 2017 wählten in Hamburg 23,5 % die SPD, 27,2 % die CDU, 13,9 % Grün. Auf Die Linke entfielen 12,2 %. FDP und AfD erhielten schließlich 10,8 % beziehungsweise 7,8 %. Für SPD und CDU waren das große Einbußen. Damals irrten die Prognosen. In diesem Jahr sind die Umfragewerte irritierend: Zwar wünschen sich momentan mehr Deutsche Olaf Scholz zum Kanzler, gleichzeitig entfällt die Mehrheit aber zeitweise auf die CDU. Die Hamburgerinnen und Hamburger sind zudem den Grünen zugetan. Für die möglichen Koalitionen ist so gut wie alles offen. Nun kann jedes Ereignis, wie Afghanistan oder die Flutkatastrophen, den Ausschlag geben. Warum ist das so?
Die Theorie dahinter
Die Theorie hinter Wahlen sieht gewöhnlich so aus: Die meisten Stimmen vereinen sich stets auf die „großen“ Parteien. Also CDU, SPD, FDP, Grüne, die Linke und seit einiger Zeit auch die AfD. Die meisten Stimmen landen gewöhnlich bei CDU und SPD in der gemäßigten Mitte. Man spricht vom Medianwähler. Sind die Parteien sich zu ähnlich, fällt die Wahl vielen schwerer, es kommt zur Enthaltung oder der Trotzwahl. Daher schickt es sich für Parteien zwar in der Mitte, wo sich die meisten Stimmen befinden, zu „fischen“, doch es muss auch genug Unterschiede geben, die den Ausschlag geben. Momentan sind Aussagen zum Abzug aus Afghanistan so ein Faktor. Wer hier klar Stellung bezieht, gibt der Wählerschaft sichere Anhaltspunkte, auch mit Blick auf mögliche Koalitionen.
Der Wechsel zum Extrem
In 2017 passierte etwas, das man bislang für unmöglich hielt: Wählerinnen und Wähler haben ein paar Stellen im politischen Spektrum übersprungen. Das heißt, sie wurden nicht nur ein wenig konservativer oder etwas progressiver, sondern wechselten von der gemäßigten Mitte zur AfD und damit zu einem Extrem. Aber das „Extrem“ oder die alternativen Parteien, was hat es mit denen auf sich? In 2017 gab es neben den alteingesessenen Parteien in Hamburg folgende andere Wahlmöglichkeiten: Die PARTEI, FREIE WÄHLER, ÖDP, MLPD, BGE, DiB, DKP, NPD, Tierschutzpartei, Piraten, die V-Partei³ sowie einige Parteien die unter „Übrige“ in die Statistik subsumiert wurden. Der Wechsel zum Extrem resultiert gewöhnlich aus Enttäuschung: Wurde ein versprechen nicht eingelöst oder scheinen etablierte Parteien eine Situation nicht richtig lösen zu können, werden Alternativen attraktiv. Warum ist der Blick nach 2017 jetzt interessant? Gelingt es, die Corona-Folgen außen vor zu lassen, steht Deutschland recht unverändert da. Die Parteien werfen sich gegenseitig vor, Fortschritte verhindert zu haben und die Diskussion darum, was vor vier Jahren versprochen wurde, wird vor dem Hintergrund der Corona-Politik neu interpretiert. Auch die Wählerinnen und Wähler werden die Coronakrise in Kalkül ziehen. Die Politik seit 2017 war aber bis zum Krisenjahr 2020 dafür entscheidend, wie wir der Pandemie begegnen konnten. Dies im einzelnen aufdröseln zu können, ist jedoch sicherlich etwas viel verlangt für die breite Wählerschaft. Was der Blick nach 2017 zeigen kann, ist eine Art „politischer Fahrplan“. Die Ergebnisse aus 2017 zeigen uns, woher Deutschland politisch kommt und welcher Trend sich abzeichnet. Hierbei könnten auch vermeintlich kleine Parteien eine Rolle spielen.
Blick auf einen Außenseiter
Nehmen wir mal die V-Partei³ – Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer. Sie wurde erst 2016 gegründet und hat den Leitsatz „Wir lieben das Leben“. Gerade einmal 284 Zweitstimmen hat die Partei in 2017 erhalten. Dasis zeigt, dass nur wenige Wählerinnen und Wähler die Nische, die die Partei besetzt, für relevant halten oder denken, dass eine andere Partei das Thema besser bearbeitet. So ist es oft bei den Alternativen und Extremen. Dabei sind manche Themen, etwa Sicherheit oder Gleichstellung, auch Extremen zugeordnet oder waren es zumindest zeitweilig. Klimaschutz war traditionell ein linkes Thema, das nun in allen Parteiprogrammen auftaucht. Doch es gibt Interessen, die nur eine geringe Zahl von Menschen zu begeistern scheinen. Ein Beispiel: Es ist eher unwahrscheinlich, dass eine Partei wie die Violetten, die sich als Vertreter spiritueller Menschen verstehen, in den Bundestag einzieht. Aber es ist ein Grundpfeiler der Demokratie, dass auch diese Menschen Gehör finden und ihrer Meinung Ausdruck verleihen können. Hier einige Beispiele für Minderheitenmeinungen in 2017: Die DKP (Deutsche Kommunistische Partei) erhielt 87 Zweitstimmen und die Piraten gingen leer aus. Am besten schnitt unter den Außenseitern die Partei ab. Sie erhielt 3.471 Erst- und 2.347 Zweitstimmen. Die Tierschutzpartei vereinte 1.093 Zweitstimmen auf sich.
Die Wahl der Überraschungen
Die vergangene Bundestagswahl hat sich vor allem durch Überraschungen ausgezeichnet. Zwar war es absehbar, dass die großen Volksparteien CDU und SPD Stimmverluste hinnehmen müssen, das Ausmaß war dennoch ungeahnt: Die CDU verlor im Bundestag 55 Sitze, die SPD 40. Die FDP legte 80 Sitze zu und die AfD zog mit 94 Sitzen in den Bundestag ein. Die Zahlen in Hamburg entsprachen diesem Trend. Die aktuellen Zahlen pendeln wieder zwischen Schwarz und Rot im Großen. Die Rolle der Linken bleibt ungewiss und eine Beteiligung der Grünen an der Regierung scheint gesetzt zu sein, jedoch ohne eine grüne Kanzlerin. Wie die Koalition aussehen wird – und es wird eine Regierungskoalition geben – bleibt eine Überraschung.