„Früher war alles besser!“ Von dieser Plattitüde gibt es zahllose Varianten: „Solche Originale gibt’s heute nicht mehr.“ „Die Leute werden immer unhöflicher.“ „Früher war mehr Zeit.“ Nach längerem Überlegen müssen wir zugeben: Alles Unsinn. Es gibt jedoch Ausnahmen, bei denen stimmt’s, die waren früher … kälter. „Früher gab’s noch richtige Winter.“
Früher war mehr Winter
Was unser Bauchgefühl und unser Sinn für Nostalgie uns einflüstern, wird mittlerweile Jahr für Jahr durch die Realität vor dem Fenster bestätigt. Ein wenig Raureif auf Autodächern ist für Kinder mittlerweile eine Sensation. In Hamburgs Garagen liegen Schlitten mit Kufen so braun wie ungenutzte Eisenbahnschienen. Eine Kreek in einsatzfähigem Zustand ist so wahrscheinlich wie eine fliegende Bundeswehr-Transall … Es ist ein leicht gespenstisches Gefühl: Die Bilder um diesen Artikel herum stammen schon heute erkennbar aus einer anderen Zeit. Wenn 2075 ein Klönschnack-Leser das Archiv bemüht und diese Seiten findet, könnten sie ihm vorkommen wie Bilder von einem anderen Planeten.
Aber halt, ist das nicht etwas melodramatisch? Die Erinnerung trügt häufig. Gab es wirklich so viele Winter, mit ausreichend Eis in Schinckels Wiese zum Kreeken? Wie oft sind wir denn wirklich auf Eisschollen über die Elbe geschippert? Haben wir das Alstervergnügen wirklich häufiger als drei Mal auf der zugefrorenen Alster erlebt?
Klimawandel in Hamburg angekommen
Antwort: Die Erinnerung trügt nicht. All diese Erscheinungen waren kein Alltag, aber auch nicht selten. Mittlerweile beweist dies nicht nur der Blick aus dem Fenster, sondern auch die nicht ganz so kühle Statistik aus dem Klimareport für Hamburg. Dieser wurde Ende 2021 vom Deutschen Wetterdienst (DWD) veröffentlicht und enthält aktuelle Daten bis einschließlich 2020.
Kurzer Spoiler: Das Fazit lautet, dass der Klimawandel längst in Hamburg angekommen, die Temperatur seit der vorindustriellen Zeit im Jahresmittel bereits um 1,7 Grad angestiegen ist – mindestens 0,5 Grad kommen bis Ende des Jahrhunderts noch dazu. Unter der Voraussetzung, dass die Klimaziele eingehalten werden.
Da sieht Jens Kerstan, Senator für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft, die Politik in der Pflicht: „Die neue Bundesregierung muss Deutschland zum Vorbild machen und endlich die Energiewende beschleunigen und den Ausstieg aus der Kohle zeitlich vorziehen. Je mehr wir beim Klimaschutz schaffen, desto besser sind wir in der Lage, uns noch an die Klimafolgen anzupassen.“
Immer weniger Eistage
Aber schauen wir uns die Daten für Winter in Hamburg etwas genauer an: Da ist zunächst die Anzahl der Frosttage – Tage, an dem das Minimum der Lufttemperatur unterhalb des Gefrierpunkts liegt. Zwischen 1961 und 1990 gabe es in Hamburg durchschnittlich 70 Frosttage im Jahr (Deutschland 91). Die Messperiode 1991 bis 2020 kommt dagegen nur noch auf 62 Frosttage.
Noch nicht deutlich genug? Nun, dann blicken wir etwas weiter zurück. Heute gibt es im Jahr 23 Frosttage weniger als noch 1951. Also solide drei Wochen Winterwetter weniger. Noch krasser ist es bei Eistagen, also Tagen, an denen das Thermometer kein einziges Mal über Null anzeigt. Von jährlich 20 Eistagen im Zeitraum 1961 bis 1990 ist die Häufigkeit auf 13 im Zeitraum 1991 bis 2020 zurückgegangen. Im jährlichen Mittel zwischen 1951 und 2020 verzeichnet Hamburg 17 Eistage pro Jahr, allerdings mit einer hohen Spannbreite von Jahr zu Jahr (56 im Jahr 2010, 0 in 2020).
Kein Winter, kein Alstervergnügen
In dem kalten Winter 1962/63 wurden 60 Eistage gezählt, 2009/10 immerhin noch 32. In Winter 2011/12 reichte es zu dem erwähnten Alstervergnügen on the rocks. Im Winter 2018/19 herrschte Hamburg noch an vier Tagen Dauerfrost – seitdem wurde das Phänomen nicht mehr beobachtet. Das wirkt sich natürlich auch auf die Schneehöhe aus. Vor 30 Jahren lag in Hamburg pro Jahr noch etwa einen ganzen Monat lang Schnee. Seit Anfang der 90er ist diese Zahl zurückgegangen auf nur noch 14 Tage. Und wenn er liegt, dann nur als dünne Decke von unter einem Zentimeter. Vor 1990 waren es durchschnittlich 2,4 Zentimeter.
So weit, so schlecht. Hinzu kommt, dass sich Wetterextreme ebenfalls auf die Seite des Sommers geschlagen haben. Die mit tiefen Temperaturen verbundenen Extremerscheinungen wie Schneestürme nehmen stark ab, und die mit Wärme verbundenen zu. Das haben etwa die Jahre 2020 und 2021 anhand von Sintfluten, Hochwasser und Backofenhitze eindrucksvoll illustriert. Zu den lautesten Klimarettern gehören heute die großen Versicherungen …
Zurück zum Alstervergnügen auf dem Eis. Hier wird deutlich, wie sehr wir uns von der Winter-Normalität vergangener Jahrzehnte entfernt haben. Nötig ist eine mindestens 20 Zentimeter dicke Eisdecke auf der Außenalster. Laut Wetterexperten ist die Wahrscheinlichkeit für diese Dicke auf alle 40 Jahre gesunken. Wer also künftig zweimal im Leben Glühweinstände auf der Außenalster sieht, hat Glück oder eine außergwöhnlich langlebige Genetik. „Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir das Vergnügen in den kommenden Jahren nochmal haben werden – aber drauf warten würde ich nicht“, sagt Oliver Weiner, Meteorologe im Regionalen Klimabüro Hamburg des DWD.
Wetter wie in Italien?
Schreibt man diese Zahlen fort, dann wird Hamburg um 2050 norditalienisches Wetter haben. Die Analogie zu Venedig mit all seinen Brücken wird dann noch sinnfälliger sein. Tatsächlich haben Forscher ermittelt, dass die Stadt bald ein Klima haben könnte, wie es früher in Norditalien oder Nordspanien herrschte. Nach einer Modellierung der ETH Zürich erwartet uns dann ein durchschnittliches Plus von 1,3 Grad im Jahresmittel, im Januar sogar mit einer Erwärmung um bis zu 2,3 Grad Celsius.
Aber wird es dann einfach gar kein winterliches Vergnügen mehr geben? Da gibt Klimaexperte Weiner zumindest teilweise Entwarnung: „Die Winter gehen nicht verloren. Auch die richtig kalten Tage wird es weiterhin geben, nur mit verminderter Wahrscheinlichkeit. Aber Schneemänner bauen und Schlitten fahren wird immer mal möglich sein.“
Von Tim Holzhäuser und Sophie Rhine