Die Aussicht, wieder in den „20ern“ zu sein, erschien zur Jahreswende 2019/2020 eher amüsant. „The Roaring Twenties“ als kulturell bunt und turbulent – ein bisschen verrucht, so wie eine Kostümparty im Uebel & Gefährlich. Dann kam Corona mitsamt den wirtschaftlichen Folgen, von denen die Inflationsrate in diesen Tagen besonders im Fokus steht. Ein kurzer Vergleich offenbart nun weniger schöne Parallelen.
1922: Hohe Staatsverschuldung, eine eben erst abgeklungene Pandemie (Spanische Grippe), Dauerfeuer radikaler Gruppen im Kampf um die politische Mehrheit, zweistellige Inflationsraten.
2022: Hohe Staatsverschuldung, die Covid-19-Pandemie, Dauerfeuer radikaler Gruppen im Kampf um die politische Mehrheit sowie die höchste Inflationsrate seit knapp 30 Jahren.
Wir sehen: Frappierende Ähnlichkeiten und dazu das Wissen, was nach 1922 geschah. Was könnte nun nach 2022 geschehen? Gibt es echte Parallelen zu den letzten 20ern oder sind das alles nur Anekdoten? Wie liegen die Wahrscheinlichkeiten für einen eher glimpflichen Verlauf in den nächsten Jahren? Vier Fragen, vier Antworten:
Was hat die derzeitige Inflationsrate von 5,2 Prozent (Stand Dezember 2021) erzeugt?
Als Hauptverursacher sehen Ökonomen die massiv gestiegenen Energiepreise, auf die Deutschland naturgemäß keinen Einfluss hat. Die Preise schlagen sich hierzulande bei Treibstoff und Heizöl nieder und gelten als „importierte“ Inflation.
Hinzu kommt ein teilweise drastisch verknapptes Warenangebot. So leiden weite Teile der Industrie unter einem Mangel an Halbleitern. Dies ist eine direkte Folge der Corona-Pandemie mit Lockdown, Werksschließungen und teuren Transporten. Auch diese Knappheit schlägt sich in Preisen nieder. Und letztlich hat die Mehrwertsteuersenkung 2020 für Teuerung im Folgejahr gesorgt. Das erscheint paradox, sollte die Maßnahme doch eigentlich die Preise senken. Der Handel hat die Steuerersparnis 2021 aber nur teilweise an Konsumenten weitergegeben. Die erneute Einführung der ursprünglichen 19 Prozent findet sich 2022 jedoch in voller Höhe auf den Bons wieder und sorgt so für steigende Preise.
Wie geht es nun weiter?
Die meisten seriösen Forschungsinstitute und Analysedienste sind sich einig: Die derzeitige Inflation ist ein temporäres Phänomen. Denn die Unterschiede zwischen 1922 und 2022 liegen in den Fundamentaldaten. Die damalige Geldentwertung fand ihren Anfang in der Tatsache, dass die Reichsmark de facto wenig wert war. Das Land hatte einen Weltkrieg verloren, die Wirtschaft war schwer geschädigt, das Volk in weiten Teilen verarmt.
Das ist heute anders. Der Euro steht auf den Fundamenten eines extrem wohlhabenden Kontinents. Sicherlich ist der Wohlstand ungleich verteilt, aber selbst ökonomisch schwächere Mitgliedsstaaten wie Ungarn oder Griechenland rangieren weit über den Verhältnissen des Deutschen Reichs 1922. Eine „galoppierende Inflation“ ist daher kein plausibles Szenario.
Auf den temporären Charakter der heutigen Inflation deuten auch die geschilderten Gründe hin: Halbleitermangel ist eine Folge der Pandemie, deren Auswirkungen abklingen werden. (Die Spanische Grippe wütete damals ca. 2,5 Jahre und kam in drei großen Wellen nach Deutschland.) Und die hohen Energiepreise könnten in Deutschland durchaus noch auf dem jetzigen Niveau bleiben. Langfristig aber wird der hohe Rohlölpreis andere Energieträger konkurrenzfähig machen und zu einem veränderten Mix führen. Auch die Wiedereinführung der Mehrwertsteuer ist ein einmaliger Effekt.
Alles in allem ist es also eher unwahrscheinlich, dass die Inflation in Deutschland weiter steigt.
Inflation war in den 1920ern auch ein psychologisches Phänomen, bei dem Angst und Panik zu Preissteigerungen führten, die wiederum neue Panikhandlungen befeuerten. Könnte eine solche Spirale heute auch entstehen?
Damals hatten in Deutschland Millionen nichts mehr zu verlieren. Das Land war wirtschaftlich zugrunde gerichtet, privater Wohlstand die Ausnahme. Die Sozialversicherungssysteme waren rudimentär. Fehlendes oder wertloses Geld konnte für eine Familie gesundheitsgefährlich oder sogar lebensbedrohend sein. Die Inflation der 20er Jahre war also Ausdruck von Misstrauen gegenüber einem Staate, der erkennbar nichts mehr zu bieten hatte, der im Grunde ebenfalls in der Schlange der Suppenküche stand. Entsprechend dünnhäutig reagierte die Menschen damals.
Das ist heute natürlich anders. Die Untergangspropheten und Warner, die derzeit versuchen den Untergang der EU herbeizureden, ignorieren dies. Den Radikalen der 2020er geht es eben nicht um eine nüchterne Analyse der Geschehnisse, sondern um das eigene Ego oder schlicht um den Profit. Attila Hildmann trägt seine Psychologie offen vor sicher her. Der „Impfgegner-Papst“ Andrew Wakefield (ein Arzt, dem in seiner Heimat Großbritannien bereits 2010 die Approbation entzogen wurde) verdient heute große Summen mit Pseudobehandlungen autistischer Kinder. Börsengurus wie Dirk Müller leben trotz mangelhafter Prognosequalität ausgezeichnet von Buchtiteln wie „Crashkurs“, „Showdown“ und „Machtbeben“. All diese Menschen erreichen aber eben keine vom Existenzminimum bedrohte Mehrheit, sondern eine von Argumenten abgekoppelte Minderheit.
Was erscheint nun als sinnvolle Strategie für Privatleute und Anleger?
Das, was sich auf lange Sicht schon immer bewährt hat: langfristiger Horizont und ein Mix an Anlageformen. Radikale Lösungen, wie z. B. ein hohes Investment in Gold, sind wenig mehr als Glücksspiel. Der Goldpreis ist hochgradig volatil. Auch die Strategie, für Immobilien praktisch jeden Preis zu zahlen, ist riskant. Die Kaufpreise haben eine völlig andere Dynamik als Mieten, was langfristig nicht gutgehen kann. Letztlich sollten Anleger gerade jetzt eher auf unabhängige Experten vertrauen, als auf Verkäufer.