und
26. September 2022
Wirtschaft

Personalmangel: Wo sind die Leute?

Weit über 70.000 Arbeitsplätze sind derzeit in Hamburg unbesetzt. Die Arbeitgeber suchen händeringend nach Personal. Doch überraschenderweise bleiben die Bewerbungen aus. Wo arbeiten die Menschen alle?

Elektriker – Personalmangel im Handwerk

Foto: Photo by Emmanuel Ikwuegbu on Unsplash

Chaos am Flughafen, geschlossene Freibäder und Restaurants in den Sommerferien, lange Wartezeiten bei Handwerksbetrieben, Pflegenotstand und ein eigentlich unzumutbarer Betreuungsschlüssel in Kitas – Personal fehlt an allen Ecken und Enden. Nach vielen Lockdowns darf alles wieder öffnen, aber nicht alles kann wieder öffnen. Woran liegt das und ist das eine neue, pandemiebedingte Entwicklung?

Da lohnt ein Blick in die Statistiken: Die Zahl der Arbeitslosen lag im Juli bei 76.909 in Hamburg – über 5.000 weniger verglichen mit Juni. Damit liegt die Arbeitslosenquote knapp über sieben Prozent. 2005 lag die Quote noch bei 11,3 Prozent und sank fast kontinuierlich bis auf 6,1 Prozent in 2019. Zu Pandemiebeginn stieg sie im deutschen Durchschnitt wieder um 1,5 Prozent – die Möglichkeit der Kurzarbeit verhinderte einen höheren Anstieg. Auch der Krieg in der Ukraine sorgt für einen neuerlichen Anstieg der Zahl. Denn den Geflüchteten wird es möglichst einfach gemacht, sich arbeitslos zu melden, um von Beginn an Unterstützung zu bekommen.

Die Pandemie hatte keinen nennenswerten Einfluss auf den Arbeitsmarkt

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich die Personalsituation erst mit Pandemiebeginn verschlechtert hat. Aber die Arbeitslosenzahlen sind nicht höher als etwa 2016 – im Gegenteil. Mit 1.036.200 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten im Mai erreichte die Gesamtbeschäftigung in Hamburger Unternehmen einen weiteren Höchststand. Und dennoch ist der Personalmangel in einigen Branchen eklatant.

Warum fehlt Personal?

Wenn es also nicht mehr Arbeitslose gibt, warum gibt es dann so viele offene Stellen? Allein der Arbeitsagentur Hamburg waren im Juli rund 13.800 offene Stellen bekannt. Die meisten Betriebe suchen Fach- und Führungskräfte (knapp 85 Prozent) und würden die Stelle am liebsten sofort besetzen. Hinzu kommen Stellen, die über andere Kanäle wie Social Media ausgeschrieben werden – eine Meldepflicht bei der Agentur für Arbeit gibt es nicht.

Die Arbeitnehmenden fehlen fast in allen Branchen. Der Tiefbau führt die Engpass-Analyse der Bundesagentur für Arbeit zwar an, aber danach kommen direkt Pflegeberufe, Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, Gleisbau, aber auch der Verkauf von Fleischwaren und Klempnerei. Fast 3.000 Stellen im Bereich „Industrie, Produktion und Fertigung“ sind bei der Agentur für Arbeit in Hamburg ausgeschrieben, knapp dahinter landen die Bereiche „Verkehr, Logistik, Schutz und Sicherheit“ sowie „Handel, Vertrieb, Tourismus“. Im Bereich „Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung“ sind es knapp 1.500 offene Stellen.

Einerseits sind neu geschaffene Stellen ja ein positives Zeichen für die Wirtschaft. „Hamburg scheint ein attraktiver Standort zu sein, es gelingt, Beschäftigung aufzubauen“, sagt Sönke Fock, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit Hamburg. Der Bedarf an Arbeitskräften sei ungebrochen hoch: „Die Lage ist deutlich besser als die Stimmung“, sagt er. „Die Besorgnisse rühren aus den aktuellen Ereignissen, dem Krieg, den gestiegenen Preisen. Prognosen zufolge wird sich das auch irgendwann in der Wirtschaft niederschlagen, aber erst einmal schlägt es auf die Stimmung und die Konsumlaune.“

Wo sind die Leute?

Aber jetzt mal konkret: Wo sind die Leute hin? Ein Aspekt ist der demographische Wandel: „Jedes Jahr scheiden mehr Arbeitskräfte aus als nachkommen“, erklärt Sönke Fock. Daraus ergebe sich eine „Nullrechnung“. Dieselbe Stelle wird dann neu besetzt, neu geschaffene Stellen bleiben aber erst einmal frei. Ein weiterer Aspekt ist die Abwanderung von einigen Branchen hin zu anderen. Hier war die Pandemie zum Teil eine treibende Kraft: Manche Branchen wie IT und Onlinehandel haben profitiert, es kamen neue Bedarfe wie Helfende in Testzentren, wieder andere Branchen fielen kurzzeitig fast komplett aus und verloren zahlreiche Mitarbeitende, die sich „krisensicherere“ Jobs suchten.

So geht es zum Beispiel der Eventbranche, dem Tourismus, der Gastronomie und der Hotellerie. Wobei die Eventbranche sich am langsamsten erholt. „Wir sind vorsichtig optimistisch, die Leute wollen sich wieder begegnen“, sagt Niklas Letz, geschäftsführender Gesellschafter der Eventagentur Blankenese. „Aber es gibt weiterhin Ängste und Bedenken – auf Veranstalter- und Kundenseite. Es ist immer noch unklar, wie weiterhin mit der Pandemie umgegangen wird, das macht es schwer, Leute zu finden.“ Und hieran hängen viele Jobs, nicht nur die darstellenden – und Hamburg ist die deutsche Musical-Stadt schlechthin, auch Technik, Bühnenbau, Gastronomie, Tourismus im Sinne von Übernachtungen, aber auch Taxifahrten zum Bahnhof und Flughafen spüren die Effekte.

Ein Bereich, der traurige Berühmtheit wegen des Personalmangels erlebt, ist der Gesundheitssektor. Der Begriff „Pflegenotstand“ taucht vermehrt auf. Dabei ist das Phänomen hier kein neues. „Wir hatten in der ambulante Pflege immer Personalbedarf, aber die Lage spitzt sich momentan rapide zu“, sagt Matthias Lüschen, Abteilungsleiter Soziale Dienste beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) Hamburg. Er fügt hinzu: „Wir sehen einen Zustand wie vor Einführung der Pflegeversicherung und steuern seit 20 Jahren auf diese Lage zu. Das hat zum einen mit dem demographischen Wandel zu tun, zum anderen hat die Ausbildung nicht damit Schritt gehalten.

Die Schuld des Gesetzgebers

Hier hätte der Gesetzgeber viel eher reagieren müssen.“ Ein anderer Punkt sind die Arbeitsbedingungen. Ein Beispiel, wie man die verbessern könnte, ist beim ASB „die Einführung des sogenannten eigenverantwortlichen Arbeitens in der ambulanten Pflege. Hier organisieren Pflegekräfte ihre Arbeit in kleinen Teams von sechs bis zehn Personen eigenverantwortlich. Das bietet ihnen mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten und verlässliche und selbstbestimmte Arbeitszeiten“, erklärt Matthias Lüschen. Bezüglich der Ausbildungslage, sagt der Pflegefachmann, spiele das schlechte Image eines belastenden, schlecht bezahlten Berufs eine Rolle und weniger das Schöne und Wertvolle. Dieses Image sei stellenweise selbstverschuldet, aber unverdient, meint Matthias Lüschen weiter. Die Ausbildungsreform eröffne heute bessere Chancen, weil Berufseinsteiger breiter aufgestellt sind, die Bezahlung sei zudem bald flächendeckend tariflich geregelt, ergänzt er.

Etwas besser läuft es im erzieherischen Bereich. „Hier hat der Imagewandel bereits begonnen“, sagt Sönke Fock. Tarif und Rahmenbedingungen wurden angepasst, die offenen Stellen werden weniger.

Eine weitere Branche, die händeringend Personal sucht, ist das Handwerk. Viele Betriebe, egal ob Klempner, Dachdecker oder Elektriker, sind auf der Suche nach Personal. „Eigentlich müsste man jeden Bewerber nehmen, aber das geht natürlich nicht“, sagt Patrick Wiemer, Elektromeister von Wiemer Elektrik in Sülldorf. „Dachdecker können zum Beispiel keine Menschen mit bestimmten gesundheitlichen Einschränkungen aufs Dach schicken und ich brauche verlässliche Leute. Schließlich geht es hier um Sicherheit“, fügt Wiemer hinzu.

„Zwei Drittel der Aufträge müssen wir ablehnen“

Warum gibt es im Handwerk so wenig Nachwuchs? Die Auftragslage ist super. „Zwei Drittel der Aufträge müssen wir ablehnen“, so Patrick Wiemer. Es gibt Weiterbildungen, Aufstiegsmöglichkeiten, die Möglichkeit, einen eigenen Betrieb zu führen. Trotzdem fehlt der Nachwuchs. Das hat verschiedene Gründe, laut Sönke Fock. Einer ist, wie in der Pflege, das Imageproblem: „Obwohl das Handwerk wortwörtlich goldenen Boden hat, bleibt das Image, dass man sich die Hände schmutzig macht. Nicht nur bei den jungen Leuten, auch in der Generation der Eltern. Es wird nicht vermittelt, wie wertvoll die Arbeit ist.“

Zudem streben immer weniger junge Menschen eine Ausbildung an: „Mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler verlässt die Schule mit Abitur – da hat man die Berechtigung und ich denke ein Stück weit die Erwartung, zu studieren“, sagt Fock. Dem stimmt auch Patrick Wiemer zu: „Der Stellenwert ist heute ein anderer als früher, im städtischen Bereich gilt das noch mehr als auf dem Land. Aber ich denke, das wird sich ändern. Es muss nur noch in den jungen Köpfen ankommen. Doch es müssten sich auch die Rahmenbedingungen ändern. Früher musste jeder Handwerksbetrieb ein Meisterbetrieb sein. Das ist heute anders. Damit fehlen auch ausbildende Betriebe.“ Hohe Abgaben trieben zudem Preise, fehlende Schiedsstellen und Praktikumsplätze täte ihr Übrigens, so der Elektromeister weiter.

Doch die Rahmenbedingungen können verändert werden, das ist schon im Gange: gezielte Berufsorientierung – auch an Gymnasien –, Praktika und bessere Einblicke in die Arbeit. „Letztendlich muss der Beruf zu einem passen. Aber wir sind überzeugt, dass eine Arbeit, die Wertevorstellungen wie sinnvoll, klimaneutral, vereinbar mit Familie, gut bezahlt, Entwicklungsmöglichkeiten entspricht, automatisch ansprechend ist. Das kann das Handwerk alles.“

Nächster Stopp: Flugbranche. Schlagzeilen machte hier vor allem das Bodenpersonal und deren Arbeitssituation. Wenig Geld, viel Stress, wenig Planungssicherheit, wacklige Anstellungsmodelle. Das sind zusammengefasst die Kritikpunkte, die unter anderem die Gewerkschaft ver.di vorbringt.

„Lassen wir es auf uns zukommen.“

Und, wie bei so vielen Branchen, die nun unter Personalmangel leiden, scheint es hier seit vielen Jahren keinen Inflationsausgleich gegeben zu haben. In einer Zeit galoppierender Teuerung schlägt das besonders zu Buche und in der Flugindustrie vielleicht noch mehr, denn allein Kerosin hat eine Preissteigerung von 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet. Die Zahlungsoptionen der Fluggesellschaften sind also zumindest bedenkenswert. Dem Wunsch nach mehr Lohn und Planungssicherheit steht also das Überleben des Konzerns entgegen und der Wunsch, Arbeitszeiten flexibel zu halten. Es ist wie eine Beziehung, in der die eine Seite Treue verlangt und die andere Seite sagt: „Lassen wir es auf uns zukommen.“

Der Flughafen Hamburg gibt für die Stellen, die in seiner Verantwortung liegen, Entwarnung, besonders für die Bodenverkehrsdienste: „Schon vor Monaten wurden zusätzliche Arbeitskräfte im europäischen Ausland gesucht, weil der Hamburger Arbeitsmarkt leergefegt ist. 40 griechische Mitarbeitende unterstützen zurzeit bei der Gepäckbe- und -entladung“, sagt Janet Niemeyer, Pressesprecherin des Flughafens Hamburg.

Auch das Ehrenamt hat seit jeher große Nachfrage nach Helfenden, allein an der Konstanz fehlt es oft: In Krisenzeiten gibt es viele helfende Hände, aber nur über einen begrenzten Zeitraum. Spätestens wenn die eigene Lebensgrundlage gefährdet ist, endet so manches Ehrenamt. Also fehlt es auch in diesem Bereich an Personal, das mehr Zeit in bezahlten Anstellungen verbringen muss.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Imageprobleme, das demografische Ungleichgewicht und Versäumnisse im Ausbildungswesen zur Misere geführt haben. Eine Möglichkeit, den Mangel aufzufangen, ist Zuwanderung. Doch Probleme der Anerkennung oder Nachbildung erschweren auch hier den Besserungsprozess.

Personalmangel

Im Juli waren laut Arbeitsagentur 13.816 Stellen in Hamburg zu besetzen, davon 95,1 Prozent (12.963) sofort. Die Hamburger Unternehmen suchen derzeit 11.486 Fach- und Führungskräfte. Dies entspricht einem Anteil von 84,2 Prozent der gesamten sozialversicherungspflichtigen Stellen. Für An- und Ungelernte stehen aktuell 2.148 freie Stellen zur Besetzung bereit.

In unserem Kleinanzeigenteil finden Sie einige Stellenanzeigen.

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