In diesem Jahr wird ein neuer Bundestag gewählt. Doch wen oder was wählt man da eigentlich? Wir bringen ab jetzt monatlich zwei Interviews der Hamburger Landesvorsitzenden. – Maryam Blumenthal ist seit Juni 2021 Landesvorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen in Hamburg.
Frau Blumenthal, wie möchte Ihre Partei die Wirtschaft wieder aufrichten und in Zukunft gestalten?
Wir haben durch die Corona Krise von Kleinunternehmen bis zum Riesenkonzern in der Wirtschaft einen fast zweijährigen Leidensweg erlebt. Natürlich dürfen wir jetzt nicht aufhören, in die Wirtschaft zu investieren. Der größte Fehler, den man jetzt begehen kann, ist, die Wirtschaft allein zu lassen und zu glauben, dass es mit ein paar Finanzspritzen getan sei.
Als Partei ist diese Krise zwingend auch als eine Chance zu sehen, auch für den Wirtschaftssektor. Wir sehen eine Chance, Wirtschaft nicht neu, aber einen Schritt weiterzudenken. Und natürlich ist es kein Geheimnis, dass wir großen Fokus legen auf einen sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft. Wir brauchen jetzt eine Wirtschaft, die den Klimaschutz im Auge behält, die bereit ist, sich darauf umzustellen. Dafür brauchen wir Anreize und müssen die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Ja, wir müssen auch klare Forderungen formulieren und auch die Wirtschaft in die Pflicht nehmen, indem wir mit Grenzwerten, CO2-Reduktionszielen und Produktstandards ehrgeizige Vorgaben machen und so den Weg in eine klimaneutrale Gesellschaft ebnen. Darauf liegt für uns ein großer Fokus. Kurzfristig wird es jetzt natürlich trotz der großen Linie auch darum gehen, neben den großen Unternehmen auch Kleinunternehmer und mittelständische Unternehmen weiterhin zu stärken und zu stabilisieren, damit wir durch diese wirtschaftlich schwierige Zeit einfach gemeinsam durchkommen.
Sowohl auf Bundesebene, als auch in den Ländern wurden die Corona bedingten Rettungsschirme für die Wirtschaft gespannt, aber wir müssen weiterhin investieren, wenn wir stabil aus der Krise heraus wollen.
Was sind die Umweltziele Ihrer Partei und welche konkreten Maßnahmen fordern Sie?
Wir wissen, dass der Blick besonders auf uns gerichtet wird, wenn wir über Umwelt- und Klimapolitik sprechen. Es stehen viele Erwartungen, aber natürlich auch Ängste im Raum. Uns ist aber vor allem klar, dass sich die Klimakatastrophen immer deutlicher offenbaren, wenn wir uns die Bilder der aktuellen Flutkatastrophe oder aus Nordamerika angucken. Wir wissen, dass wir im Grunde schon fünf nach Zwölf haben und es jetzt endlich Zeit wird, hier wirklich zu reagieren und Dinge schnell zu ändern. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil hat noch mal auf auf höchster Ebene gezeigt, dass die Klimapolitik der GroKo einfach nicht tragbar, nicht haltbar und vor allem nicht rechtens ist. Da wollen wir stark nachjustieren. Das Klimaziel für 2030 muss strenger sein.
Das machen wir auch in Hamburg: Hier überarbeiten wir im Moment das Klimagesetz, um dort nachzuschärfen und den Klimaplan anzupassen. In diesem gibt es dann Maßnahmen, die die festgelegten Klimaziele aus dem Gesetz erreichen sollen.
Sie haben ja schon gesagt, es gibt gewisse Ängste, die mit dem Thema Umweltschutz oder dem Umdenken verbunden sind. Zum Beispiel fragen sich Menschen, die eher in ländlichen Regionen wohnen, wie sie sich alles noch leisten sollen, wenn zum Beispiel Diesel verboten werden würde. Wie kann man diesen Menschen helfen? Wie kann man Umweltschutz oder das Umdenken auch für diese Menschen bezahlbar machen?
Klima- und Umweltschutz darf keine Frage vom Einkommen sein, keine Frage von „Kann ich mir das leisten?” Das wird gerne so dargestellt, aber wir können hier die Verantwortung nicht finanziell auf den Endverbraucher abwälzen. Unsere Politik sieht hier die Wirtschaft in einer ganz starken Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass das Klima geschützt wird. Klimaschutz muss sozial verträglich sein, wenngleich selbstverständlich auch die privaten Haushalte an der einen oder anderen Stellschraube drehen müssen. Klimaschutz ist letztlich eine gesamtgesellschaftliche Frage, bei der es nicht darum geht, etwas zu verbieten, sondern um einen sukzessiven Ausbau hin zu mehr Klima- und Umweltschutz, der mit einem Rückbau klimaschädlicher Wirtschaft einhergeht. Das bedeutet natürlich Investitionen, aber nur so können wir unser Klima retten.
Sie sagten in einem Interview kürzlich, dass die Grünen ihre Komfortzone verlassen und die Türen aufstoßen müssen, die bislang verschlossen sind. Ich dachte da vor allem an Geringverdiener. Sie sagten, sie sind selbst aufgewachsen in einem Kontext, den man mit den Grünen nicht in Verbindung bringt. Möchten Sie dazu etwas sagen?
Ich bin in einem Hochhaus in Steilshoop aufgewachsen und habe auch einige Zeit meines Lebens Hartz IV bezogen. Für mich ist klar, dass grüne Politik eine Politik für alle sein muss. Eine Politik, die den kleinen Geldbeutel und den großen im Blick hat. Natürlich geht das über Steuern für Besserverdienende. Aber es geht auch um Entlastungen für Familien, die nicht viel Einkommen haben. Wir haben einen laufenden Sozialstaat, der aber an vielen Stellen ausbaufähig ist. An dieser Stelle sehe ich großes Potential für uns als Grüne, eine Politik für alle zu machen. Eine Politik, die auch für alle zugänglich ist und die sich für eine gerechtere Gesellschaft stark macht. Klimaschutz beispielsweise darf kein abstraktes Thema sein. Klimaschutz kann überall sein und muss kein Angst-Thema sein. Daneben geht es aber auch darum, die Themen der Menschen im Dialog aufzunehmen und sie dann auch in unsere Politik zu übersetzen. Letztlich geht es insgesamt um mehr Dialog, darum, Vertrauen zu gewinnen und verlässlich in den Themen zu sein.
Wie gut ist das deutsche Bildungssystem? Muss ich etwas verändern?
Das deutsche Bildungssystem gibt es so ja gar nicht so richtig, durch unser föderales System ist Bildung Ländersache. Jedem Bundesland ist es daher ein wenig unterschiedlich, selbst die Schulsysteme. Es gibt aber den deutschen Bildungsbegriff und der deutsche Bildungsbegriff ist sehr stark auf Leistung, auf formale Bildung, auf Benotung ausgelegt und auf das Messen. Er ist sehr weit weg vom Zulassen einer Fehlerkultur. Er ist sehr weit weg von individueller Entwicklung.
Es ist ein großes Problem, wenn der ganze Fokus auf einer Abschlussnote liegt, während wir alle wissen, dass Bildung so viel mehr ist. Es braucht so viel mehr als formale Bildungsabschlüsse, um in einer zunehmend globalen Welt erfolgreich und zufrieden in einer Gesellschaft leben zu können.
Auch ist unser Bildungssystem insgesamt stark auf Selektion ausgelegt. Das ist nicht gerecht. Wenn im Elternhaushalt keine günstigen Voraussetzungen herrschen, ist es nach wie vor kaum möglich, das aufzuholen. Wir wissen längst, dass Bildungserfolg stark von der Aspiration der Eltern, also der Erwartung der Eltern an die Bildung des Kindes, abhängt und wir wissen längst, dass bestimmte Faktoren Zuhause ungerechte Ausgangslagen für Kinder schaffen. Es gelingt uns aber immer noch nicht, allen Kindern unabhängig vom Elternhaushalt gerechte Chancen zu ermöglichen. Wir verwechseln immer noch Gleichheit mit Gerechtigkeit und meinen, alle hätten doch die Chance, etwas aus sich zu machen. Dabei verkennen wir aber gerne, dass Diversität differenzierte Zugänge und Maßnahmen braucht. Unser Bildungssystem muss gerechter aufgestellt werden, von der Kita an.
Wie kann es gelingen, die Freiheit der Bürger und ihre Sicherheit in Einklang zu bringen?
Wir wollen keine gläsernen Bürger und auch keine Überwachungskameras auf allen öffentlichen Plätzen. Wir vertrauen stark auf den Rechtsstaat und die konstante Verbesserung von diesem. Wir setzen auf die Grundrechte der Menschen und wollen diese nicht durchweg monitoren.
Wie kann es dann gelingen, Sicherheit herzustellen? Nach der Krise wird vermutlich Terrorismus aus welcher Richtung auch immer wieder zunehmen.
Das ist eine beunruhigende These, für die ich keine Anhaltspunkte sehe. Ich glaube aber, Terroristische Angriffe sind auch eine Frage von Demokratieverständnis, dort müssen wir grundsätzlich ansetzen und arbeiten. Wir brauchen einen Staat, in Sicherheit durch Freiheit, durch Grundrechte und einen gut aufgestellten, Bürger-orientierten Sicherheitsapparat möglich gemacht wird. Dieser Satz ist merkwürdig…
Wie können Bürger vor Gewalttaten geschützt werden?
Natürlich braucht es zum Beispiel bei großen Events eine gute Polizeipräsenz, um Sicherheit zu schaffen. Diese soll aber keine Angst machen. Es ist bedauerlich, dass diese Präsenz überhaupt notwendig ist, aber wir brauchen sie auch für das Sicherheitsgefühl der Menschen. Es ist natürlich ganz wichtig, dass wir keine Angsträume schaffen im öffentlichen Raum.
Wir reden oft über die Polizei, darüber, wie die Arbeit der Polizistinnen und Polizisten unterstützt werden kann, wie wir neues Personal gewinnen, sie ordentlich ausbilden und ausstatten. Daneben reden wir nicht genug über die Justiz. In diesem Bereich dürfen wir ebenso auf keinen Fall sparen oder nachlässig werden.. In einem funktionierenden Rechtsstaat brauchen wir eine gute Ausstattung der Justiz, die schnell handelt und ausreichend Personal hat…
Brauchen wir die Bundeswehr und brauchen wir die NATO?
Wir brauchen selbstverständlich eine Bundeswehr, aber wollen diese auch adäquat an die heutige Zeit anpassen. Eine Bundeswehr, die Vertrauen schafft und divers aufgestellt ist. Ohne menschenfeindliche Ideologien oder rechtsextremistisches Verhalten, sondern ihrem Auftrag gerecht: Sie soll für Sicherheit sorgen und Hilfe leisten können, im In- undAusland.
Einen Beitrag zum Frieden in der Welt sollten wir europäisch denken. Die Europäische Union muss ihrer Verantwortung gerecht werden, mit starker parlamentarischer Kontrolle und einer gemeinsamen restriktiven Politik bei Rüstungsexporten.
Als Grüne sind wir immer der Meinung, dass ein Auslandseinsatz mit militärischer Gewalt immer das allerletzte Mittel sein muss. Alle Sanktionen, alle Embargos, alle diplomatischen Möglichkeiten müssen vorher versucht werden. Wir brauchen ein System der gemeinsamen Sicherheit, auf Basis von Grundgesetz und Völkerrecht.
Und die NATO?
Die NATO ist aus europäischer Sicht unverzichtbar, weil sie dem Rückfall auf nationales Denken in der Sicherheitspolitik entgegenwirkt. Sie muss aber neu aufgestellt werden, um ihr eine gute strategische Grundlage zum Erhalt der europäischen Werte zu geben. Wir wollen dort nicht national denken, sondern gemeinsam mit unseren Partnern in der EU, in Norwegen und in Großbritannien gemeinsam für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten.
Wie weit sind wir Ihrer Meinung nach bei der Gleichstellung und was müsste noch passieren?
Gleichstellung lässt in der Realität noch viel zu oft auf sich warten. Das erkennt man ja schon daran, in was für Ausreden sich in der Debatte weiterhin geflüchtet wird. Nein, Gleichstellung ergibt sich eben nicht von selbst. Und nein, ohne Frauenquoten wird sich daran auch nichts ändern. Wir müssen da als Gesellschaft noch einen langen Weg gehen, auf dem die Wahrheiten schonungslos ausgesprochen werden. Echte Gleichstellung bedeutet, dass Frauen einfach mal für die gleiche Arbeit das gleiche Gehalt wie ihre männlichen Kollegen bekommen oder sich arbeitende Mutter nicht dauernd rechtfertigen müssen, weil viel zu oft Mütter noch hinter dem Herd verortet werden. Echte Gleichstellung würde auch bedeutet, dass es überall selbstverständlich ist, dass Väter Elternzeit nehmen, was absolut noch nicht der Fall ist. Wir können doch gern in der frühkindlichen Bildung anfangen, und nicht ignorieren, dass auch die Mädels sich für MINT-Fächer interessieren und wir nicht dahingehend Jungs Rechenaufgaben geben und Mädels ein Pferd zum Ausmalen. Das klingt banal, aber wir stecken da leider als Gesellschaft noch oft genug fest.
Brauchen wir eine Frauenquote?
Ja, wir brauchen unbedingt eine Frauenquote. Denn auch in Vorständen, Aufsichtsräten und Chefetagen gibt es noch enormen Nachholbedarf, was die Gleichberechtigung der Geschlechter angeht. Deutschland ist unglaublich vielfältig, aber seine Führungspositionen sind es einfach noch nicht. Egal ob im Großunternehmen, in der Politik oder im Fußballverein. Dabei ist schon lange klar: Diverse Teams führen besser und erfolgreicher. Unser Ziel ist deshalb klar: Die Hälfte der Macht gehört den Frauen. Freiwillige Empfehlungen haben bisher nichts gebracht. Wir müssen uns jetzt mit festen Regelungen unserem Ziel von 50 Prozent Frauenanteil näher und so vielen Menschen endlich die Chance geben, die sie aufgrund struktureller Gegebenheiten bisher nicht hatten.
Also als Türöffner und nicht als stetiger Mechanismus?
Das muss sich herausstellen. Wir kommen aus einer Gesellschaft, die über Jahrhunderte patriarchalische Strukturen aufgebaut hat. Die durchdringt man nicht einfach innerhalb von ein paar Jahren. Wir haben erst seit 100 Jahren Wahlrecht für Frauen in Deutschland. Und es ist auch noch nicht allzu lange her, da mussten Frauen ihren Mann fragen, ob sie arbeiten gehen dürfen.
Die Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit den Neunzigern eine Straftat.
Genau! Und dann stellen sich männliche Politiker hin und sagen, eine Frauenquote ist Quatsch, das ergibt sich von selbst. Wie? Die Erklärung liefern sie dann nicht. Und besonders absurd ist: Wenn man sich in deren Reihen umschaut, sieht man ja, wie es ohne Quote nicht mal ansatzweise klappt. Wir sind eine feministische Partei und gehen mit unserem feministischen Anspruch sehr offensiv nach vorne. Für uns ist klar, dass wir jahrhundertelange patriarchale Strukturen nur aufarbeiten und glätten können, wenn wir über eine Regulierung gehen. Im besten Fall ist diese Regulierung natürlich ein Türöffner, der danach ein Selbstverständnis erwirkt hat und letztlich nicht mehr benötigt wird.
Was halten Sie von gendergerechter Sprache?
In der Sprache sind Freiheiten für mich besonders wichtig. Deshalb kann ich über ein Gender-Verbot, das es an Schulen leider schon gibt, nur den Kopf schütteln. Die Menschen sollen selbst entscheiden, ob sie gendern möchten oder nicht. Klar ist doch: Sprache entwickelt sich immer weiter, Sprache schafft Realität. Wir sind als Gesellschaft jetzt einfach eine andere als noch vor zehn oder 20 Jahren. Dass sich unsere Wortwahl oder unsere Ausdrucksweise verändert, ist nur logisch und eine Sache, die wir als Politiker*innen aktiv begleiten müssen. Es bringt nichts, engstirnig an irgendwelchen Begriffen auf Speisekarten oder maskulinen Schreibweisen festzuhalten, die längst aus der Zeit gefallen sind und die vor allem Menschen diskriminieren,
Dann kommen wir zum Punkt Zuwanderung und Integration. Ich hab hier geschrieben: Würden Sie die Haltung Ihrer Partei hierzu kurz umreißen? Was mich aufgrund Ihrer Biografie eigentlich interessiert, ist, haben Sie sich immer in Deutschland willkommen gefühlt? Sie sind ja Deutsche.
Genau, aber ich bin auch Iranerin. Ich habe auch zwei Pässe und mich hier nicht immer willkommen gefühlt. Es gab Situationen in meinem Leben, in denen ich gedacht habe: “Das wäre einer Person ohne Migrationsgeschichte jetzt aber nicht passiert!”
Es gab auch Situationen in meinem Leben, in denen ich mich in Gruppen fehl am Platz oder unwohl gefühlt habe. Wenn ich mal wieder die einzige Person im Raum mit sichtbarer Migrationsgeschichte war. Mich hat das früher oft geärgert und auch verunsichert. Ich habe mich dann immer gefragt, ob die anderen im Raum das auch so sehen wie ich, ob ich ihnen anders auffalle und ob das Einfluss auf ihr Verhalten mir gegenüber hat. Und ganz eindeutige Erlebnisse gab es leider auch.
Würden Sie ein Beispiel nennen?
Klar. Da gab es zum Beispiel eine Situation kurz nach der Geburt unseres ersten Kindes. Mein Mann fuhr langsam im Auto, weil ich noch viele Schmerzen hatte. Die Geburt war gerade ein paar Tage her. Wir fuhren nach Hause, da hupte hinter uns jemand in einer 30er-Zone. Er fuhr an uns vorbei und ich wollte ihm sagen, dass es eine 30er-Zone ist und mein Mann sich nur an die Regeln hält. Darauf sagte dieser Fremde wirklich: „Halt deine Schnauze, zeig du mir erst mal deinen deutschen Pass, bevor ich mir von dir etwas sagen lasse!“ Es gibt schon ein paar, vielleicht eine Handvoll, solch aggressiver Beispiele. Auch wenn mein Grundgefühl grundsätzlich ein gutes, willkommenes Gefühl ist, war das doch nicht immer so. Aber die viel spannendere Frage ist meiner Meinung nach eh eine andere. Sie könnten mich fragen: „Fühlen Sie sich komplett als Deutsche?“
Tun Sie es?
Nein. Deutschland ist mein Zuhause und nirgends sonst würde ich sein wollen. Ich merke aber in mir irgendwie immer einen Unterschied, der vielleicht auch an meiner Persönlichkeit, meiner Geschichte und eben einer anderen Kultur liegt. Manchmal sind es Kleinigkeiten, wie dass ich zum Beispiel gewisse Redewendungen einfach nicht kenne, manchmal ist es aber auch mehr. .Ich trage etwas mit mir herum, was mich nicht so richtig lässt, um mich komplett und ganz deutsch zu fühlen, sofern es das überhaupt gibt. Aber ich fühle mich eben auch nicht komplett iranisch, eher sogar kaum. Das beruhigt mich dann wieder. Es ist schwierig zu beschreiben, aber ich glaube, dieses Gefühl kann man auch kaum in Sprache übersetzen. Es geht letztlich darum, zwei Welten so zu vereinen, dass daraus eine wird, in der auch andere gerne mit mir leben.
Ist es nicht auch eine Chance, zwei Kulturen und Sprachen so gut zu kennen?
Es sind zwei Kulturen, die sehr unterschiedlich sind. Das macht es in meiner Welt ein bisschen schwierig, alles unter einen Hut zu bekommen. Ursprünglich ist die persische Kultur eine sehr offene, sehr liberale Kultur gewesen. Aber die iranische Kultur, die ich in den Jahren nach der Revolution kennengelernt habe, ist aufgrund des islamischen Regimes, der Rolle der Religion und der patriarchalischen Rollenbilder eine ganz andere gewesen. Das dann mit der deutschen Kultur und der offenen, europäischen Welt zusammenzubringen, war für mich auch eine Herausforderung. Und da sind wir dann auch beim Thema Integration. Einen Mittelweg zu finden, zwei Herzen gerecht zu werden und dabei auch noch auf ständige strukturelle Widerstände zu stoßen, ist auch heutzutage immer noch eine schwierige Aufgabe, weil der Staat Menschen mit Migrationsgeschichte schlichtweg oft alleine lässt. Da muss sich für die zukünftigen Generationen eine Menge tun.
Diesen Konflikt, den Sie beschreiben, kann man auch auf die gesellschaftliche Ebene übertragen. Was möchte ihre Partei tun, um Integration zu erleichtern?
Was uns Grüne von den anderen Parteien unterscheidet: Wir verstehen Integration nicht als eindimensionale Pflicht der zu uns kommenden Menschen. Wir müssen den Menschen die Hand reichen und dürfen sie nicht bloß in unsere Gruppe aufnehmen, sondern müssen mit ihnen zusammen gestalten, entwickeln und sozusagen zu einer neuen Gruppe zusammen wachsen.. Kultur wandelt sich, Gesellschaft verändert sich, Zusammenleben entwickelt sich. Es gibt nicht die deutsche Kultur, in die jemand rein gezwungen werden muss oder in der sich jemand beweisen muss. Das ist natürlich etwas, was wir einerseits vorleben müssen und andererseits politisch auch kommunizieren müssen. Deshalb müssen wir in einer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft wie unserer endlich dafür sorgen, dass es gleiche Zugänge und Teilhabe-Chancen in allen Bereichen des Lebens gibt. Und da gibt es eine Menge Nachholbedarf, weshalb wir Grünen gleich ein ganzes Paket an Maßnahmen planen. Deutschland braucht auf jeden Fall ein modernes Einwanderungsgesetz, die Jahre der passiven Einwanderungspolitik müssen aufhören.
Wir Grüne haben gerade unser Vielfalt-Statut verabschiedet, an dem wir auch weiter arbeiten. Es geht darum, in unseren grünen Strukturen durchweg Diversität einzubinden. Da gehen wir allen anderen Parteien voran. Politik ist oft ein Vorbild für die Gesellschaft, wie bei der Frauenquote. Deswegen ist das so unglaublich wichtig. Wir können nur von der Gesellschaft verlangen, was wir in unseren Parteistrukturen vorleben. So zeigen wir, dass wir es ernst meinen mit der Diversität.
Können Sie die Haltung der Grünen zum Thema Gesundheit kurz zusammenfassen?
Unser Gesundheitssystem ist in der Vergangenheit auf verschiedenen Ebenen kaputtgespart worden. Für uns ist klar, dass wir deshalb die Vorzeichen ändern müssen. Weg von der Profitorientierung, hin zu mehr Sensibilität und Vorsorge. Krankenhäuser und Ärzte auf dem Land brauchen mehr Unterstützung, medizinische Versorgung muss flächendeckend und einfach zugänglich sein. Es darf da keine Ungleichheit geben. Egal, ob man in der Stadt, auf dem Land, in Blankenese oder in Steilshoop wohnt. Auch im Bereich der Pflege müssen wir natürlich massiv investieren. Obwohl wir eine alternde Gesellschaft sind, haben frühere Bundesregierungen den Bereich jahrelang vernachlässigt und die Situation beschönigt. Einfaches Händeklatschen hilft deshalb jetzt nicht mehr weiter, es braucht auch dort einen Kurswechsel. Wir müssen den Fachkräfte-Nachwuchs stärken, auf eine gute Bezahlung setzen und die Pfleger*innen in ihrem Alltag vor Überlastungen schützen. Die Situation der Pflege können wir nur verbessern, wenn wir nicht nur umfassende Veränderungen anstoßen, sondern dafür auch mit den Arbeitnehmer*innen sprechen und rücksichtsvoll vorgehen. .
Wo liegen Ihrer Meinung nach die Knackpunkte beim Thema Arbeit und Rente?
Bei der Rente haben wir ein großes Zukunftsthema und zugleich auch ein großes Zukunftsproblem, weil immer mehr Menschen länger Rente beziehen. Da warten also eine Menge Herausforderungen auf uns: Das Rentenniveau muss stabil bleiben, die Altersarmut muss bekämpft werden. Dafür müssen wir die Grundrente auf ein ordentliches Niveau heben und auch dafür sorgen, dass die Menschen nicht trotz des Staates im Alter gut und würdig leben können, sondern explizit von seiner Hilfe profitieren. Das alles gelingt nur, wenn wir parallel auch den Arbeitsmarkt attraktiv gestalten und so genügend Geld in die Rentenkasse bringen. Auch hier kommt man übrigens an der Gleichberechtigung nicht vorbei. Wir brauchen für einen guten und nachhaltigen Arbeitsmarkt mehr Frauen in Arbeitsverhältnissen. Außerdem braucht es Anreize für mehr Vollzeitstellen und eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Im Gegenzug müssen wir zudem prekäre Arbeitssituationen reduzieren und Minijobs verhindern. Diese Hintertürchen für Unternehmen müssen geschlossen werden, damit Menschen eine ordentliche, sozialversicherungspflichtige Arbeit bekommen. So kommt dann auch Geld in die Rentenkasse, Stabilität in den Arbeitsmarkt und wichtige Sicherheit in Beschäftigungsverhältnisse .
Dann kommen wir zum Punkt Infrastruktur.
Ich glaube, die Pandemie hat schonungslos gezeigt, wie wichtig ein massiver Ausbau der Digitalisierung ist. Denn Deutschland ist hier gefühltes Schlusslicht. Wir sind in so vielen Bereichen Marktführer , können gute Autos bauen, Impfstoffe erfinden und scheitern im Digitalen dann trotzdem so schmerzhaft. Die Versäumnisse sind da ja für jeden Menschen offensichtlich und da sehen wir als Grüne dringenden Handlungsbedarf. Parallel braucht es natürlich auch noch in anderen Bereichen massive Veränderungen. Da müssen wir uns in Hamburg ja nur das Stadtbild angucken. Die Köhlbrandbrücke ist ein veraltetes Nadelöhr, die Elbchaussee viel zu überlastet, der Fahrradverkehr hat kaum Platz und das Auto ist leider nach wie vor das wichtigste Verkehrsmittel. Die neue Behörde für Verkehr und Mobilitätswende mit unserem Grünen Senator Anjes Tjarks hat da jetzt schon einiges angestoßen, viele weitere Änderungen werden folgen. Was für mich ganz klar ist: Wie sich Menschen in diesem Land und in dieser Stadt weiterbewegen, ist einfach mitentscheidend dafür, ob wir unsere nachfolgenden Generationen ein sicheres und angenehmes Leben auf diesem Planeten bieten können. Hierfür müssen wir nicht nur Klimaziele erreichen, sondern eben auch die Fahrt durch die Stadt fortan attraktiver gestalten. Es kann ja nicht angehen, dass ich aus dem Hamburger Umland zwei Stunden brauche, um in der Innenstadt anzukommen oder ab 17 Uhr nicht mehr vorwärts oder rückwärts fahren kann, weil einfach kein Bus mehr vor meiner Haustür fährt. In Hamburg machen wir da gerade aber große Schritte in die richtige Richtung: Mit einer fünf Minuten-Taktung und einem besseren Netz ins Hamburger Umland. Wir bauen massiv das Radnetz aus, sodass auch Pendlerverkehr aus dem Umland besser in die Stadt reinkommen können. Dass wir Hamburgs Verkehrs-Infrastruktur mit dem Umland zusammen denken, ist genau der richtige Schritt.
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