28. Juli 2021
Interviews

Wie sieht das Ihre Partei? – Interview mit Melanie Leonhard (SPD)

In diesem Jahr wird ein neuer Bundestag gewählt. Wir haben für Sie mit allen Landesvorsitzenden der großen Hamburger Parteien gesprochen.

Sozialsenatorin Dr. Melanie Leonhard; Foto: ©Oliver-Tjaden

Sozialsenatorin Dr. Melanie Leonhard; Foto: ©Oliver-Tjaden

Dr. Melanie Leonhard ist seit 2015 2015 bis 2020 Senatorin für Arbeit, Soziales, Familie und Integration in Hamburg. In 2020 wechselte auch das Ressort  Gesundheit in ihre Behörde. Seit  2018 ist sie Vorsitzende der SPD Hamburg.

Frau Leonhard, wie gut ist unser Gesundheitssystem?

Wir haben insbesondere jetzt, in der Pandemie, gesehen, wie gut wir im ambulanten Sektor aufgestellt sind. Es ist möglich, in einer großen Breite gesundheitliche Leistungen anbieten zu können, ohne dass alle in ein zentrales Krankenhaus kommen müssen, ob für einen Test oder eine kurze Behandlung. Das hat uns sehr geholfen.

Wir haben also den ambulanten Sektor auf der einen Seite und daneben eine ausgeprägte, qualitativ sehr hochwertige „Spezial-Medizin“ auf der anderen Seite. Das zeichnet das deutsche Gesundheitssystem weiterhin aus.

Gleichzeitig haben wir gemerkt, dass die eine oder andere starke Differenzierung überprüft werden muss. In Bereichen, in denen wir dünne Besiedlungen im ländlichen Raum haben, wissen wir, dass eine stationäre medizinische Versorgung auf höchstem Niveau nicht überall vorhanden sein kann, weil es dafür kontinuierlich gewisse Fallzahlen in den Regionen braucht. Das wird uns künftig noch andere Lösungen abfordern, als nur die Unterscheidung zwischen niedergelassenen Praxen und Krankenhäusern. Wir werden uns weiterentwickeln müssen.

Sie sagten bereits etwas über die dünne Besiedlung in manchen Gebieten. Nehmen wir die sogenannte Provinz in Brandenburg. Wie kann man da nachsteuern?

Es wird uns auch für die Städte noch Antworten abverlangen. Aber gerade im ländlichen Raum werden wir künftig noch mehr sektorenübergreifend anbieten müssen. Das meint nicht nur Hausarzt, Facharzt, Krankenhaus, Uniklinik. Wir werden wahrscheinlich bald zusammengefasste Strukturen sehen, bei denen sowohl eine ambulante als auch eine gute stationäre Versorgung vor Ort möglich ist. Wir werden nicht mehr ausschließlich innerhalb dieser starren Grenzen unterwegs sein können, um in allen Regionen unseres Landes eine gute medizinische Versorgung anbieten zu können.

Nehmen wir das Beispiel medizinische Fußpflege. Je nachdem wo man wohnt, muss man dafür lange Strecken fahren.

Oder Sie haben das Angebot doch vor Ort, wenn Sie sich bestimmte Regionen anschauen, in denen jetzt schon modellhaft ambulantisierte Lösungen erprobt werden. Die Niederländer operieren sehr erfolgreich mit Sozialraum-Systemen, in denen die Themen Gemeindepflege und Gemeindeversorgung genau aus solchen Gründen reaktiviert worden sind. Dort gibt es Angebote, die nicht jeden Tag zu jeder Stunde an einem Ort verfügbar sind, aber ein-, zweimal die Woche. Dann reicht das Spektrum von medizinischer Fußpflege über den Verbandswechsel bis zur Behandlung. Je nach dem was die Menschen vor Ort benötigen. Wir erproben ähnliches jetzt zum Beispiel bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung in Hamburg sehr erfolgreich. Auch in anderen Regionen werden wir darauf zurückkommen.

Und gleichzeitig werden sich Strukturen, die jetzt völlig getrennt arbeiten, in den niedergelassenen Bereichen und der stationären Versorgung auch an bestimmten Stellen zusammenschließen müssen, um eine gute durchgehende Versorgung zu gewährleisten. Das ist meines Erachtens das Modell der Zukunft. Und das nennen wir jetzt so ein bisschen neudeutsch „sektorenübergreifend“. Das bedeutet eigentlich, dass alle Akteure zusammenwirken.

Wie möchte die SPD in diese Richtung wirken?

Es gibt zwei Säulen, die sehr wesentlich sind. Neben der Frage der Schaffung von gesetzlichen Grundlagen für eine gute sektorenübergreifende Versorgung werden wir uns irgendwann auch die Frage stellen müssen, ob einerseits Krankenhäuser ambulante Versorgung vor Ort oder klassische Hausarztmodelle anbieten dürfen und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Ich glaube, wir werden das machen müssen. Und andererseits braucht es sehr, sehr gute Fachkräfte. Dazu zählt die Reform des Medizinstudiums, die jetzt schon läuft. Dazu zählt aber auch die Frage guter Ausbildung und Bezahlung im Pflegebereich.

Zudem müssen wir unsere Versicherungssysteme reformieren Das betrifft insbesondere die Pflegeversicherung. Wir haben ein System, in dem jede Kostensteigerung zulasten der Pflegebedürftigen geht. Und wenn diese nicht mehr bezahlen können, zulasten der Kommunen. Wir brauchen mehr Tarifbindung in der Altenpflege. Der Osten Deutschlands ist fast frei von Tarifverträgen. Sonst hätten wir so etwas wie den Pflege-Mindestlohn gar nicht. Die Kosten für tariflich gute Bezahlung, eine sehr gute Aus-, Fort- und Weiterbildung dürfen nicht allein den Pflegebedürftigen aufgebürdet werden. Deswegen ist es ganz dringend notwendig, dass wir zu einer Reform der Pflegeversicherung kommen. Und wir müssen bei der Krankenversicherung noch etwas tun. Es braucht eine echte Bürgerversicherung. Das hat sich die SPD vorgenommen und treibt es da, wo sie Verantwortung hat, auch entsprechend voran.

Wie will Ihre Partei die Wirtschaft wiederaufrichten und zukünftig mitgestalten?

Das eine ist das Thema Fachkräfte. Wir sind ein Land mit einem hohen Fachkräftebedarf. Die deutsche Wirtschaft ist sehr leistungsfähig. Aber wir steuern auf eine Situation zu, in der mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, als nachkommen. Deswegen müssen alle Anstrengungen darauf liegen, dass alle, die in Deutschland zur Schule gehen, einen Abschluss schaffen und sich danach weiter qualifizieren können.

Der zweite Punkt ist, dass wir auch allen, die schon im Beruf sind, wirksame Möglichkeiten der Weiterqualifizierung anbieten, wenn sich in ihrer Branche etwas tut. Nehmen wir den ganzen Bereich Mess- und Regeltechnik. Den Mess- und Regeltechniker alter Prägung gibt es praktisch nicht mehr. Daraus erwachsen sind aber zahlreiche neue Ausbildungsberufe im Bereich der Klimatechnik und im Wärme- und Haustechnikbereich. Manche Menschen müssen sich in ihrem Berufsleben plötzlich nochmal richtig neues Wissen aneignen. Dafür müssen wir Strukturen entwickeln. Dass Qualifizierung Chancen schafft, ist ein guter Anfang. Es kann aber nicht das Ende sein.

Das Dritte ist: Wir brauchen eine gute Standortpolitik. Auch im Kampf gegen den Klimawandel dürfen wir uns nicht deindustrialisieren. Die Industrie ist das starke Rückgrat der deutschen Wirtschaft und die muss hier weiterhin eine Zukunft haben. Dazu zählt das Thema Fachkräfte aber ebenso wie das Thema Energie. Und wir müssen einfach mit viel Kraft und Mitteln solche Dinge wie den Ersatz der jetzigen Energieträger durch erneuerbare Energien, aber auch Wasserstoff, vorantreiben.

Und das muss deutschlandweit passieren. Denken Sie allein an die Anforderungen im Leitungsbau: Wir haben hier in Norduropa grundsätzlich genug Strom aus erneuerbaren Energien. Leider ist er im Moment nicht da verfügbar, wo er gebraucht wird. Und da wird man sich als Partei entscheiden müssen, wo man die entsprechenden Strukturentscheidungen trifft. Wenn wir im Kampf gegen den Klimawandel erfolgreich sein wollen und uns nicht komplett deindustrialisieren wollen, müssen auch manchmal Entscheidungen pro Leitungsbau getroffen werden.

In Regionen wie Garzweiler haben die Menschen teils etwas Angst vor erneuerbaren Energien, weil viele Jobs von der Braunkohle abhängen. Gibt es dort eine Nachfolgeregelung? Die Leute müssten doch jetzt eigentlich umschwenken und sagen: Wir gehen in die Zukunft.

Ja und es wird dort auch viel getan. Nehmen Sie den ganzen Bereich rund um Jülich. Die Forschung in der Region dient der Erschließung erneuerbarer Energien und energiesparender Produktionsmethoden. Alle müssen wissen, dass Braunkohleabbau, zumal in Deutschland, kein Zukunftsmodell ist. Gleichwohl werden wir es nicht von heute auf morgen beenden können. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir dort gute Angebote zur Nach- und Weiterqualifizierung machen für die Menschen, die schon in dem Bereich beschäftigt sind. Und für alle anderen – das meine ich mit Re-Industrialisierung – andere Möglichkeiten attraktiv gestalten. Jetzt werden auch Flächen wieder nutzbar, sowohl für Stadtentwicklung, aber auch für die Wirtschaftsförderung. Das war vor 30 Jahren undenkbar, weil alles immer dem Braunkohleabbau vorbehalten war. Darin liegen viele Chancen. Man muss sich trauen, es auszusprechen und darf den Menschen nicht vorspielen, es würde sich nichts ändern müssen. Denn dass sich etwas ändern muss, steht fest.

Was sind die Umweltziele Ihrer Partei?

Die SPD hat sich immer dazu bekannt: Eine gute Zukunftspolitik ist auch eine gute Umweltpolitik. Heute bedeutet das auch, einen engagierten Kampf gegen den Klimawandel zu führen. Deswegen ist für die SPD auch völlig unbestritten, dass die Klimaziele von Paris obligatorisch sind. Wir haben uns entsprechend auf Bundesebene eingebracht. Es ist ein schwer zu erringendes Ziel. Und weil das so ist, muss man es so organisieren, dass die Menschen „mitgehen“ können. Dazu zählt das Thema: „Wie organisieren wir eine CO2-Bepreisung?“ Es bedeutet nicht, dass einige Leute künftig im Winter im Kalten sitzen. Das ist ein wesentliches Thema für die SPD. Und wie gelingt es, wenn sie an ihre eigene berufliche Zukunft denken, damit etwas Positives zu verbinden? Denn darin liegt etwas Positives, und zwar für jeden Job.

Welche Ziele hat die SPD im Bereich der CO2-Bepreisung?

Es wird auf lange Sicht zumindest an indirekter Bepreisung kein Weg vorbeiführen. Man muss es aber so gestalten, dass die, die viel leisten können, mehr leisten als die, die weniger bezahlen können. Das gilt vor allem für den Bereich der privaten Heiz- und Energiekosten. Das zielt aber auch darauf, wie wir das Thema CO2-Bepreisung mit dem Blick auf die Industrie organisieren. Wie gestalten wir den Wandel hin zu den erneuerbaren Energien so, dass er wirklich gewollt, rentabel und gleichzeitig auch möglich ist. Denn man muss es deutlich sagen: Noch ist es nicht möglich, unsere Industrie vollständig über erneuerbare Energien zu bespielen. Wir müssen da noch etwas beim Thema Leitungsbau und Energiegewinnung tun.

Und auch die Produktion hier im Inland stärken, damit wir das nicht im Ausland einkaufen?

Aber natürlich. Es wird gar nicht anders gehen. Ich mache mal ein Beispiel: Wir haben im Norden, Westen und Osten Deutschlands exzellente Bedingungen für das Thema Windenergie. Wir kommen gut voran, was das Thema Speicherkapazitäten angeht. Wir müssen aber auch Industrieunternehmen bundesweit mit Energie versorgen können. Dazu sind Investitionen in die Infrastruktur nötig. Das setzt eine Akzeptanz dafür voraus. Sie können nicht allgemein fordern, dass die Industrie sich auf erneuerbare Energie umstellt – für uns bedeutet das übrigens auch immer ein Teil Wasserstoff – und gleichzeitig mit Ihrem Ortsverein in Südhessen den Bau einer Oberleitung bekämpfen. So wird es nie etwas mit dem Klimaschutz werden.

Kommen wir zur Bildung. Wie gut ist das deutsche Bildungssystem?

 

Das deutsche Bildungssystem ist viel besser als sein Ruf. Unterm Strich haben wir mit unserer Möglichkeit, sowohl ein Hochschulstudium anzustreben als auch eine duale, sehr betriebsorientierte Berufsausbildung zu absolvieren, weiterhin zwei sehr starke Instrumente für den Weg von der Schule in einen Beruf. Während früher viele immer nur die Zahl der Hochschulabschlüsse gezählt haben, hat man einfach nicht beachtet, dass Fachschulausbildung im europäischen Ausland bei uns im Grunde meist eine betriebliche Ausbildung ist. Inzwischen schauen alle darauf, wie wir das machen. Dass Betriebe sich verantwortlich erklären, einen Teil der Ausbildung zu übernehmen und davon zu profitieren, ist in Europa fast einzigartig. Die Schweden adaptieren es gerade für den Bereich Gastronomie und Hotellerie mit großer Mühe. Es funktioniert nicht gut, weil es dort das Verständnis dafür nicht gibt, dass auch die Wirtschaft einen Teil der Bildungsverantwortung trägt. Wir sind besser, als wir glauben.

Wir haben aber weiterhin das große Problem, dass der Bildungserfolg immer noch zu stark mit der Herkunft und dem Elternhaus zusammenhängt. Ein wichtiges Instrument dagegen ist zum Beispiel das Bildungs- zu Teilhabegesetz, bei dem es einen finanziellen Ausgleich gibt. Aber viel wichtiger erscheint mir, dass wir die Schulen so stark machen, dass dort diskriminierungsfreie Bildung unabhängig von den Voraussetzungen des Elternhauses stattfinden kann. Ganztägige Bildung und Betreuung, wie wir sie hier in Hamburg haben, trägt einen großen Teil dazu bei.

Wir haben uns ganz deutlich verbessert im Bildungsranking der deutschen Bundesländer. Wir sind inzwischen im oberen Drittel. Ein weiterer Anteil ist, dass man die Schulen in den Stadtteilen mit besonderen Herausforderungen, dort, wo Schülerinnen und Schüler mehr brauchen, von vorneherein besser ausstattet als den Durchschnitt. Damit leistet man einen wichtigen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit, aber auch zum Bildungserfolg Deutschlands insgesamt. Diesen Beweis treten wir hier in Hamburg an. Und wenn man das bundesweit weiterverfolgt, dann ist das ein Erfolgsmodell.

In einem vorherigen Interview erwähnten Sie bereits die frühkindliche Bildung und deren Stellenwert. In den vergangenen Jahren ist die frühkindliche Bildung ein kleines bisschen untergegangen. Aber jetzt greifen alle Parteien dieses Thema auf. Es scheint geradezu ein Wahlkampfthema zu sein.

Erst als die frühkindliche Bildung in Folge der Lockdowns wegfiel, haben wirklich alle gemerkt, dass sie notwendig ist. Welche hohe Bedeutung die frühkindliche Bildung hat, wissen ja nicht nur die Eltern, deren Kinder davon profitieren, sondern wird bei jeder Schuleintrittsuntersuchung hier in Hamburg deutlich. Bei unseren viereinhalbjährigen Erhebungen zum Sprachstand können wir einen deutlichen Unterschied messen und zwar jedes Jahr, zwischen den Kindern, die frühkindliche Bildung hatten und denen, die keine hatten. Unter denen, die sie hatten, ist der Anteil der Kinder die Sprachförderung benötigen, viel kleiner. Und das ist etwas Gutes.

Dazu sind Kinder gewöhnt in einer Gruppe Themen zu entwickeln und etwas in einem akzeptierenden, wertschöpfenden und ermutigenden Umfeld gemeinsam zu lernen. Es ist sehr wertvoll und wir merken, dass dort, wo es nicht stattfindet, weil es vielleicht auch keine gute Verzahnung zwischen früher Bildung und Schule gibt, wir vermehrt Übergangsschwierigkeiten bei den Kindern erleben. Es ist Wunsch und Wille der SPD, dass es bundesweit Strukturen gibt, von denen die Kinder durch frühkindliche Bildung profitieren. Entweder gibt es nicht genug Plätze, sie sind weiterhin viel zu teuer oder sie stehen nicht allen zur Verfügung. Und das muss sich ändern. Dafür steht die SPD.

Es wurde vom Bund ein Aufholpaket beschlossen. Die frühkindliche Bildung ist auch ein Teil davon, allerdings etwas kleiner oder viel kleiner als der Rest.

Das stimmt. Aber es hat zwei Aspekte. Erstens ist es gut, dass der Rest so groß ist, weil der Bund damit stark in Schulen investiert. Das kennen wir ja nicht, muss man sagen. Das war immer Ländersache. Es ist gut, dass der Bund anerkennt, dass es einen hohen Investitionsbedarf an Schulen gibt und er mithelfen muss wie zum Beispiel mit dem Aufholpaket beim Ausbau der Schulsozialarbeit. Gleichwohl: Ich sage es mal so salopp, klar hätten wir uns für die Kitas mehr gewünscht. Das bleibt jetzt eben auch eine Aufgabe, die die Länder zu erfüllen haben. Und wenn wir das Geld richtig verwenden, kann man damit viel erreichen.

Kommen wir zum nächsten Punkt Sicherheit und Verteidigung.

Das eine ist der innenpolitische Sicherheitsaspekt. Wir alle wissen, dass eine gute Polizei eine bürgernahe Polizei ist, die gut ausgestattet ist und gute Möglichkeiten hat. Dazu ist es wichtig gutes, neues, junges, qualifiziertes Personal zu gewinnen, und dafür ist es erforderlich, dass wir sie auch als das begreifen, was die Polizei ist, nämlich ein wesentliches Stück unserer Gesellschaft. Nur mit einer sicheren Gesellschaft ist auch Freiheit möglich. Deswegen ist es wichtig, dass wir es nicht zulassen, dass sich Strukturen bilden, in denen sich die Polizei abgrenzt, so dass Intransparenz entsteht.

Das gleiche gilt im Grunde außenpolitisch. Wir brauchen eine gut ausgestattete Bundeswehr, die in der Lage ist, sich gemessen an ihrem Aufgabenprofil auch in internationalen Kontexten einzubringen.  Das sage ich ganz deutlich als Sozialdemokratin.

Es ist aber genau deswegen umso wichtiger – weil es immer so leicht gesagt ist beim Verteidigungshaushalt zu sparen und lieber woanders zu investieren –, dass die Entkoppelung von Bundeswehr und Zivilbevölkerung nicht weiter voranschreitet. Die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform sind eine wesentliche Säule einer modernen Bundeswehr. Soldatinnen und Soldaten sind Teil unserer Gesellschaft. Und das muss auch so sein. Dann werden wir auch eine gute Bundeswehr haben, die für motivierte Fachkräfte und junge Menschen attraktiv ist. Das brauchen wir für Deutschland.

Ich darf das als Bekenntnis zu NATO verstehen?

Ja. Oder habe ich mich da nicht deutlich ausgedrückt? (lacht) Die SPD steht zu unseren internationalen Bündnissen.

Wie weit sind wir Ihrer Meinung nach bei der Gleichstellung und was müsste da noch passieren?

Nicht weit genug. Wir brauchen aus meiner Sicht ein Jahrzehnt der Gleichstellung. Wenn ich namentlich angekündigt werde, wird immer noch Mann erwartet. Und das sagt alles darüber aus, wie weit wir bei der Gleichstellung sind. Die Dinge, die wir begonnen haben, wie Quote bei Führungskräften und Aufsichtsräten, sind ja nur Ausdruck einer Mangelsituation. Bräuchten wir keine Quote, wäre es viel schöner. Wir brauchen aber eine, weil es nicht sein kann, dass immer nur die zähesten Köpfe des jeweils unterrepräsentierten Geschlechts durchkommen. Umgekehrt führen wir heute immer noch Debatten und engagierte Gespräche darüber, warum Männer genauso gut in der Krippenerziehung tätig sein können. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir haben noch viel zu tun. Ich werde immer gefragt, was sagt Ihr Mann denn dazu, dass Sie immer so viel unterwegs sind?

Ihren Mann fragt man das wahrscheinlich nicht.

Nein. Natürlich nicht. Und fragt irgendjemand den Vorsitzenden der CDU, was seine Frau so lange allein zu Hause mit den Kindern macht? Ich glaube nicht. Also, wir sind noch nicht fertig. Da ist noch was zu tun. Sternchen hin oder her.

Was halten Sie von gendergerechter Sprache?

Ich finde wichtig, dass wir alle Geschlechter gleichermaßen ansprechen. Das finde ich auch schon aus eigener Biografie wirklich wichtig. Gleichzeitig ist es so, dass wir uns weiterhin insgesamt um eine besser verständliche Sprache bemühen müssen. Und wir können nicht im Versuch, die Sprache gerechter zu machen, etwa indem wir Sonderzeichen verwenden, so hohe Anforderungen stecken, dass wieder Menschen ausgeschlossen werden, weil sie einen Text nicht nachvollziehen können.

Aber das Gendersternchen könnte so eine Art Übergangslösung sein, bis wir eine bessere sprachliche Lösung finden?

Ich glaube diese ganze Sternchensache ist bestenfalls eine Übergangslösung. Texte sind sehr oft Ausdruck dessen, was jemand anderen sagen will. Sie sollten vielmehr Ausdruck dessen sein, dass man die anderen auch erreichen möchte. Die Sozialbehörde hat zum Beispiel gerade die Aufgabe, ihre Behördentexte in leichte   oder mindestens in einfache Sprache zu bringen. Da ist das Gendersternchen nicht optimal. Meine Aufgabe ist es, dass sich die Menschen aus Hamburg angesprochen fühlen, unabhängig von Sternchen, Doppelpunkt oder anderen Varianten.

Das Sternchen ist eine Methode. Es gibt noch bessere, ohne dass man neue Worte erfindet. Ich bin mal von einer Stadtteilmutter angesprochen worden. Das sind Mütter, die sich in ihren Stadtteilen organisieren, um den Menschen zu helfen, die zum Beispiel nicht gut lesen und schreiben können oder andere Sprachbarrieren haben. Sie helfen etwa bei der Suche nach Kitaplätzen. Sie fragte mich: „Was bedeutet das Frau Leonhard? Hamburger*innen? Innen und außen?“ Sprache ist da exklusiv. Sie hätte mehr anfangen können mit „Hamburgerinnen und Hamburger“. Dann hätte sie gewusst, es sind alle gemeint. Und das muss auch bedacht werden.

Zuwanderung und Integration. Würden Sie die Haltung Ihrer Partei hierzu kurz umreißen? Und wo gibt’s eventuell noch Nachholbedarf?

Die SPD hat sehr früh erkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und die Politik entsprechend ausgerichtet. Wir haben bestimmte wirtschaftliche Entwicklungen, die ohne Zuwanderung nicht mehr denkbar sind. Denken Sie an die berühmte Dienstleistungsgesellschaft. Wichtig ist aber, dass man das gestaltet und dazu gehört zunehmend der Zugang zum Spracherwerb. Sprache ist der Schlüssel, um sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden. Dazu zählt, dass wir unser Ausländerrecht so gestalten, dass die Menschen auch eine echte Perspektive haben. Und wenn die Perspektive lautet, zu bleiben, dann muss das auch ernst gemeint sein. Die Menschen, die wir in die Lage versetzen, mit ihrer eigenen Arbeit, mit ihrem eigenen Beitrag, sich hier eine eigenständige Existenz aufzubauen, die werden auch ein wichtiger, wertvoller Teil unserer Gesellschaft sein und damit gut entwickelt sein. Je schwieriger wir das gestalten, desto integrationshemmender sind wir.

Wir beide kommen irgendwie bei keinem Punkt an Ihrer Behörde vorbei, Frau Leonhard. Also Soziales. Wo liegen die Knackpunkte bei Rente und Arbeitsmarkt?

Die Potenziale, die wir haben, müssen wir auch nutzen. Das bedeutet: alles investieren, damit möglichst niemand ohne Abschluss von der Schule abgeht, möglichst viele Qualifizierungs- und Nachqualifizierungsangebote auch im Erwerbsleben machen, damit die Menschen eine lange, vielleicht vielfältigere Erwerbsbiografie haben als früher.

Bei unserer Bevölkerungsentwicklung, Zuwanderung hin oder her, brauchen wir eine breitere Basis. Deswegen kann es nicht sein, dass wir weiten Teilen über die Beitragsbemessungsgrenze oder wegen Selbstständigkeit keinen ausreichenden Zugang zur gesetzlichen Rente oder Krankenversicherung verschaffen.

Wir brauchen mehr Menschen in der Rentenversicherung als außerhalb. Deswegen ist der Zugang für Einzelselbstständige das Mindeste, aber auch die Frage, ob wir uns dann wie früher breiter aufstellen und ob zum Beispiel bei geringfügigen Erwerbseinkommen wie den so genannten 450-Euro-Jobs auch ein relevanter Beitrag zur Rentenversicherung geleistet wird, um auch etwas dabei herauszubekommen. Viele dieser Arbeitsverhältnisse werden von Frauen gemacht und das Gesicht der Altersarmut in Deutschland ist weiterhin weiblich.

Es wird gesagt, dass Kinder als Erwerbs- oder Rentenrisiko gelten. Alleinerziehende können sich zum Teil keine hohen Rentenansprüche sichern.

Können sie auch nicht. Wie sollen sie das machen? Man muss einfach sagen, dass viele bis heute die Augen davor verschließen. Das betrifft nicht nur Alleinerziehende, aber auch. Die Vorstellung, nach der Elternzeit erst einmal nur geringfügig beschäftigt zu arbeiten, bedeutet auch, dass diese Jahre in der Rentenversicherung fehlen. Und das ist falsch. Wir müssen Anreize schaffen, damit man in Teilzeit geht, auch wenn man unterm Strich netto mal fünf Euro weniger rauskriegt. Deswegen muss diese Basis erweitert werden. Das betrifft manchmal auch Väter, aber Alleinerziehende sind überwiegend Frauen. Ebenso verheiratete Frauen, wenn die Ehe auseinander geht und sie dann dastehen und nach vielen Jahren der Berufseinstieg nicht mehr gelingt, das fehlt dann bei der Rente. Das darf so nicht mehr sein.

Wie ist das bei Kunst- und Filmschaffenden, die das Problem haben, dass sie sich häufig keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld erarbeiten können, weil sie aufgrund ihrer Verträge nicht lange genug am Stück arbeiten?

Die berühmten Werksverträge sind aus meiner Sicht oftmals Sozialversicherungspflicht-Flucht-Verträge, besonders dann, wenn es um pauschale Entlohnung geht. Für Werksverträge der kurzfristigen Beschäftigung muss es die Möglichkeiten geben, freiwillig den Versicherungssystemen beizutreten. Und in bestimmten Bereichen wie der Rentenversicherung halte ich es sogar für vertretbar, es zur Verpflichtung zu machen. Die SPD fordert das schon lange. Wir haben jetzt bei Corona gesehen, wie wichtig es wäre, stattdessen wird sich absurd über Unternehmerlohn und dergleichen unterhalten. In Wahrheit ist das alles nur ein Ausgleich für eine Flucht aus der Sozialversicherung. Das zahlen die Leute, die dann arbeiten – systemrelevant zum Beispiel im Einzelhandel und so weiter – alle mit?! Das muss man einfach wissen.

Denken Sie, dass nach Corona noch irgendetwas übrig bleibt von dieser Einsicht, dass systemrelevante Berufe eigentlich zu schlecht bezahlt werden?

Ich glaube, es wird sich bei den nächsten Tarifverhandlungen zeigen. Es geht ja nur über Tarifverträge. Die Menschen wissen, wie wichtig es ist, einen guten Arbeitsvertrag zu haben. Einen guten Arbeitsvertrag gibt es in aller Regel, wenn es einen guten Tarifvertrag gibt. Bei den nächsten Tarifverhandlungen werden wir das merken.

Kommen wir zur Infrastruktur.

Es ist eine unumstrittene Erkenntnis, dass Deutschland seine Infrastruktur finanzieren muss. Dazu zählt das Schienennetz, der Ausbau von Straßen und Brücken, Gewässer und der Leitungsbau. Der Bund will sich da stärker engagieren. Das soll er auch tun. Die Sozialdemokratie steht dazu. Wichtig ist, dass es vor Ort aber auch gelingt. Man kann sich nicht hinstellen und sagen, es muss mehr auf die Schiene verlegt werden beim Warenwirtschaftsverkehr und vor Ort genau dagegen eine Bürgerinitiative starten. Dieses Modell kann nicht mehr funktionieren.

Der öffentliche Personennahverkehr ist zum hohen Teil privatisiert. Wenn sich eine Strecke nicht mehr lohnt, haben viele Menschen auf dem Land ein Problem irgendwo hinzukommen. Gibt es eine Möglichkeit, aus der politischen Richtung entgegenzuwirken?

Na klar. Wir brauchen ein klares Bekenntnis, dass Personennahverkehr auch Daseinsvorsorge ist und wenn das so ist, dann muss man als Staat auch wieder Strecken betreiben und zum Beispiel über Versorgungsaufträge einsteigen. Das bedeutet aber mehr und nicht weniger Staat. Kein Problem für die Sozialdemokratie.

In Hamburg machen wir das. Wir unterhalten Buslinien auch wenn nur wenige Leute drinsitzen. Ja, das ist quersubventioniert, aber wir finden das auch wichtig, weil auch jemand aus Finkenwerder nach Hause kommen können muss, wenn auch spätabends nur einmal die Stunde.

Ich habe noch eine kleine Zusatzfrage: Frau Leonhard, könnten Sie sich vorstellen, eines Tages Bundeskanzlerin zu werden?

Nein. Ich spekuliere nicht, was Zukunftsperspektiven bezüglich meiner beruflichen Laufbahn betrifft. Ich habe mir vor fünf Jahren gesagt, ich will keine Berufspolitik machen und jetzt sitzen wir hier.

 

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