9. Juli 2024
Interviews

Kent Nagano im Interview: „Es hat mich zutiefst bewegt …“

Nach einem verdienstvollen Jahrzehnt in Hamburg ist dies Kent Naganos vorletzte Saison in der Stadt. Im Interview erzählt der Maestro vom „Sound der Stadt“ und was Hamburg für ihn so besonders macht.

Kent Nagano ist für seinen bedächtigen und respektvollen Umgang mit seinen Orchestern bekannt. // Foto: Claudia Höhne

Kent Nagano ist für seinen bedächtigen und respektvollen Umgang mit seinen Orchestern bekannt. // Foto: Claudia Höhne

Maestro Nagano, die nächste Saison ist Ihre letzte in Hamburg als Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchesters. Was bewegt Sie derzeit?
Ich habe oft in früheren Interviews gesagt, dass Hamburg für mich von Anfang an eine besondere Bedeutung und ein besonderes „feeling“ hatte. Hamburg ist eine Hafenstadt, und ich komme aus einer Hafenstadt. Heute lebe ich in San Francisco, aber aufgewachsen bin ich in einem kleinen Küstendorf, Morro Bay, das auch einen kleinen Hafen hatte. Alle Hafenstädte teilen bestimmte Merkmale, weil es einen ständigen Zu- und Abfluss von Waren, Menschen und Ideen gibt – es ist ein ständiger Austausch. Diese lebendige, offene, soziale Vitalität ist das, was den Charakter Hamburgs ausmacht, und in Kombination mit dem Seewetter fühlt es sich wie zu Hause an.

Natürlich werde ich das Philharmonische Staatsorchester am meisten vermissen. Es verkörpert eine der großen, originalen Musiktraditionen der Welt, und die jetzige Generation setzt sich sehr engagiert und hingebungsvoll dafür ein, diese Tradition in die Zukunft zu tragen. Wir haben eine gewaltige Reise hinter uns, seit die Elbphilharmonie hier eröffnet wurde. Auch die Laeiszhalle und St. Michaelis sind geschichtsträchtige Orte, die für die musikalische Tradition des Philharmonischen Staatsorchesters stehen. Ich bin persönlich berührt, dass das Orchester mich gebeten hat, Ehrendirigent zu werden und „ein Teil der Familie“ zu bleiben. Das bedeutet auch, dass es kein Abschied von dieser wunderbaren Tradition sein wird.

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Die „Tiefe“ des Musikschaffens

Soweit ich aus Ihrem Buch „Ten Lessons of My Life“ erfahren durfte, versuchen Sie stets zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Was haben Sie hier in Hamburg gelernt?
Nun, abgesehen vom Offensichtlichen – das heißt dem musikalischen Teil – habe ich zur Vorbereitung auf das Amt des Generalmusikdirektors zwei Jahre in ein ausgiebiges Studium der Hamburger Geschichte investiert, bevor ich kam. Da Hamburg eine Stadt in ständiger Entwicklung ist, beschäftige ich mich auch heute noch mit der Geschichte unserer Stadt, ihrer Aktualität und den Möglichkeiten ihrer nächsten Generation. Und das bezieht sich nicht nur auf die Geschichte der Entstehung der Oper, sondern auch auf die vielen Jahrhunderte davor.

Warum haben Sie hier so viel Zeit investiert?
Die Kenntnis des historischen Kontextes bietet die Möglichkeit, den Ursprung der musikalischen Tradition zu verstehen. Es geht um Fragen wie: Warum ist Hamburg so anders als Bayern oder Sachsen? Was hat es mit dem 30-jährigen Krieg auf sich? Was hat die dreimalige Residenz Napoleons in Hamburg damit zu tun? Warum hat er Hamburg aufgegeben? Waren die Hamburger zu stark im Charakter? Was machte einst und was macht heute diesen Charakter aus? Wie klingt der Charakter Hamburgs?

Einer der großen Vorteile der Pandemie war, viel Zeit zum Lesen zu haben. Vor allem über die europäische Geschichte, die die Region Hamburg betrifft, die religiösen Entwicklungen und die Auswirkungen, die die Anhänger Luthers hatten. Und dann die Frage, wie und warum hat das die musikalische Entwicklung hier beeinflusst? Was bedeuten die Kirchen wie St. Michaelis und St. Petri heute? Diese großen historischen Denkmäler, die heute noch aktiv sind – welche Rolle spielten sie, spielen sie noch? Diese Fragen geben einen Hinweis auf das, was unser Publikum so einzigartig macht, und geben Hinweise auf die Wurzeln unseres Klangs. Und das trägt zur Tiefe des Musikschaffens bei.

„Ich denke, Hamburg hat international gezeigt, was ein Konzertsaal sein kann.“

Rückblickend auf die vergangenen Jahre in Hamburg, welche Ereignisse würden Sie hervorheben? Ich denke, der Moment, als die Elbphilharmonie eröffnet wurde, gehört zu der Liste …
… Das war natürlich ein ganz besonderer Moment. Ich denke, Hamburg hat international gezeigt, was ein Konzertsaal sein kann. Ist es ein Ort, an den man geht, um Musik zu hören? Ja, das ist ein Teil der Definition, aber nur ein Teil. Wenn ein Konzerthaus erfolgreich ist, ist es ein Ort der Begegnung für alle Generationen, für alle Teile der Gesellschaft. Das bedeutet auch, dass dieser Ort Teil der sozialen Identität ist – unserer Identität. Es ist der Ort, an dem wir uns versammeln, zu dem wir Gäste einladen und von dem aus wir unsere Hamburgische Kulturtradition in die internationale Gemeinschaft ausstrahlen.

Das ist, was ein Konzertsaal sein kann und sein soll, weil es ihm eine besondere Relevanz zukommen lässt. Und die Elbphilharmonie ist ein attraktiver Teil unserer Stadt. Die Elbphilharmonie war einer der größten Erfolge für Hamburg und ein Statement dafür, dass Hamburg an die Bedeutung der Künste als Teil seiner Zukunft glaubt.

Abgesehen von der Elbphilharmonie, was war für Sie bemerkenswert?
Allein das Kennenlernen dieser großen Orchestertradition und ihrer aktuellen Generation. Und ich wusste von Anfang an, dass diese Tradition etwas Besonderes und ein wichtiger Teil der musikalischen Struktur der internationalen Gemeinschaft ist. Wir haben viel neues Publikum gewonnen, nicht nur hier, sondern auch im Ausland. Während meiner Amtszeit sind wir häufig getourt. Zum Beispiel unser Gastspiel in der Carnegie Hall im letzten Jahr war ein bedeutender Erfolg.

Selbstverständlich waren die außerordentlich positive Resonanz des Publikums und der Presse wichtig, aber das Wichtigste an diesem Ereignis war, dass wir als Botschafter die Hamburger Tradition und unseren einzigartigen Klang dem internationalen Publikum nahe bringen konnten. In der Carnegie Hall wie auch in anderen kosmopolitischen Zentren, in denen wir aufgetreten sind, konnten wir mit einem ganz besonderen Publikum interagieren, das allen großen Orchestern zuhört. Weitere Gastspiele führten uns nach Europa, Südamerika und Asien. Unvergessliche Momente waren außerdem die Auftritte erstmals in der Suntory Hall (Tokio, Japan, Anm. d. Red.), in Budapest und in Osaka.

„Für Musiker ist es wichtig, eine starke Verbindung zu Deutschland und seiner Musiktradition aufzubauen.“

Würden Sie sagen, dass Sie eine besondere Verbindung zu Deutschland und seiner Musiktradition haben?
Für Musiker ist es wichtig, eine starke Verbindung zu Deutschland und seiner Musiktradition aufzubauen, denn sie ist ein wesentlicher Bestandteil unseres europäischen Repertoires. Es ist aber auch wichtig, eine starke Verbindung zu Frankreich, Belgien, Österreich und natürlich zu Italien zu haben, wo weitere Wurzeln unserer Tradition liegen, um nur einige zu nennen. Es gibt auch Verbindungen nach Skandinavien, Russland, England … Als Musiker, der die europäischen Meisterwerke aufführt, bin ich der Meinung, dass es wesentlich ist, das gesamte Repertoire und seine Geschichte als Teil des eigenen musikalischen Ausdrucks zu betrachten und eine Beziehung zu diesen Traditionen aufzubauen. Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, dass es nicht nur darum geht, eine Beziehung zur musikalischen Tradition aufzubauen, sondern tatsächlich einen kulturellen Kontext, einen kulturellen Bezugspunkt, Sprachen und Rituale aufzunehmen.

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„Um ehrlich zu sein, denke ich nicht in Kategorien wie ‚traditionelle‘ und ’neue‘ Musik.“

Ihr Abschiedskonzert in Hamburg verbindet Johannes Brahms‘ Symphonie Nr. 4 und Alex Nantes‘ Symphonie „Anahita“, eine Auftragsarbeit. Sie kombinieren gerne sogenannte traditionelle Musik und neue Musik. Ist das ein Statement oder gibt es noch mehr zu Ihrer Entscheidung zu sagen?
Um ehrlich zu sein, denke ich nicht in Kategorien wie „traditionelle“ und „neue“ Musik. Um das Vertrauen des Publikums zu gewinnen, muss man Prioritäten setzen und sich fragen, ob ein Werk von überragender musikalischer Qualität ist. Da wir als Interpreten das Publikum voll und ganz respektieren müssen, ist es für mich wichtig, dass wir nur äußerst sorgfältig und kompromisslos ausgewählte Werke des Repertoires spielen.

Die Wahl von Alex Nante fiel auf jemanden, der derzeit international viel Aufmerksamkeit erregt. Er ist jemand, der eine sehr strenge traditionelle Kompositionsausbildung erhalten hat. Er ist also nicht losgelöst von der Tradition, sondern trägt die Tradition in die Zukunft. Ich habe Herrn Nante gebeten, die Hamburger Tradition als Anregung für sein neues Werk zu berücksichtigen, was er in Form von Bezügen zu Händels großen Oratorien und seinem musikalischen Erzählstil tut. Im Geiste Händels wählte Nante eine alttestamentarische Geschichte und setzte sie in die Form eines Quasi-Oratoriums. Ein Teil dessen, was das Alte Testament so fantastisch macht, sind die großartigen Geschichten. Ob man nun gläubig ist oder nicht, die Geschichten bleiben außerordentlich. Alex Nantes Sensibilität für die Hamburger Tradition wird sich in seinem neuen Werk, das er für uns geschrieben hat, widerspiegeln.

„… ich werde Deutschland für immer dankbar sein.“

Für Ihre Verdienste um die deutsche Musikkultur haben Sie kürzlich das Bundesverdienstkreuz erhalten. Was verbinden Sie mit dieser Ehrung?
Das war etwas, das mich sehr bewegt hat. Vor allem, weil ich nicht deutsch bin. Als Ausländer auf diese Weise anerkannt zu werden, ist einfach etwas Außergewöhnliches. Natürlich habe ich die Auszeichnung in keiner Weise erwartet, und es ist eine besondere Ehre, die mich für den Rest meines Lebens begleiten wird. Dass mir der Orden in Hamburg verliehen wurde, war sehr berührend. Diese Ehrung ist ein großes Privileg, und ich werde Deutschland für immer dankbar sein.

Was möchten Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg geben?
Das Orchester hat sich in den vergangenen Jahrzehnten außerordentlich entwickelt, hat viele neue Meilensteine erreicht. Darauf kann Hamburg stolz sein. Sie haben wahrscheinlich bemerkt, dass wir den Beginn eines bedeutenden Generationswechsels im Orchester erleben. Und das bringt einen interessanten Aspekt mit sich, denn es verbindet die Weisheit unserer erfahrenen Musiker, diese Reife und Tiefe, mit der Energie der neuen Generation. Heute ist ein sehr besonderer Moment, weil das Potenzial für eine neue Entwicklungsstufe da ist. Wir haben in letzter Zeit viele entscheidende Erfolge erzielt, und das Orchester ist bereit, weitere Schritte nach vorne zu gehen. Ich freue mich schon sehr darauf, zu sehen, was das neue Kapitel in der Orchestergeschichte bringen wird.

Maestro Nagano, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Zur Person

Kent Nagano wurde 1951 in Berkeley, Kalifornien geboren. Er arbeitete mit Größen wie Leonard Bernstein, Alfred Brendel, Olivier Messiaen und Frank Zappa. Seit 2015 ist er Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchesters. Ein großes Anliegen ist ihm die Nachwuchsförderung. In diesem Jahr erhielt er das Bundesverdienstkreuz.

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