27. Juni 2022
Interviews

„Kugel ins Hirn“ – Interview mit Klaus Scherer

Der bekannte Journalist Klaus Scherer veröffentlicht im Oktober sein neues Buch. Darin geht er Hass und Hetze im Internet nach. Hier schildert er seine Eindrücke im Umgang mit den Tätern.

Klaus Scherer - Redakteur und Autor in der Abteilung Dokumentation und Reportage im NDR. Als Mitglied im Autorenpool "Reportage" gehört Klaus Scherer zum kleinen Kreis der festangestellten Redakteure, die die Möglichkeit haben, herausragende Filme mit eigener Handschrift zu realisieren. // Foto: © NDR/Hendrik Lüders

Klaus Scherer - Redakteur und Autor in der Abteilung Dokumentation und Reportage im NDR. Als Mitglied im Autorenpool "Reportage" gehört Klaus Scherer zum kleinen Kreis der festangestellten Redakteure, die die Möglichkeit haben, herausragende Filme mit eigener Handschrift zu realisieren. // Foto: © NDR/Hendrik Lüders

Herr Scherer, „Kugel ins Hirn“. Das ist der Titel Ihres neuen Buches und zugleich ein Hasskommentar aus dem Internet.

Das war ein in der Tat ein Nutzerbeitrag auf Facebook unter einem erkennbar gefälschten Post über einen Politiker, der angeblich Kinder von der Polizei abholen lassen werde, um sie unter Zwang impfen zu lassen, gegen den Willen der Eltern. Der Beschuldigte forderte daraufhin „Dem ne Kugel ins Hirn. Vielleicht hilft es ja.“

 

Die Aussage ist drastisch. Aber warum ist dieser Fall so wichtig?

Wir haben in dem Fall die Staatsanwältin begleitet, die den Rechtsstreit für wegweisend hielt.

Das Amtsgericht in Bersenbrück hatte ihren Strafantrag abgelehnt, woraufhin sie sich beschwerte und Recht bekam. Der Fall ging dann zurück ans gleiche Amtsgericht, ins Hauptverfahren. Die Richterin sprach den Beschuldigten daraufhin erneut frei. Mit dem Argument, er habe das nicht so gemeint, sondern den Politiker nur wachrütteln wollen. Die Staatsanwaltschaft hat dann erneut widersprochen. Das Landgericht in Osnabrück hat das Urteil dann kassiert. Der Richter dort sagte trocken: „Entschuldigung, mit einer Kugel im Kopf ist man meistens tot.“

Insofern hat die Staatsanwältin gut daran getan, dem eine grundsätzliche Bedeutung zu geben. Nach meiner Wahrnehmung ist tatsächlich Bewegung in die Justiz gekommen, weg von diesem „Na ja, das stand hier nur im Konjunktiv. Und der hat ja nur gesagt, wenn ich Reichskanzler wäre, dann würde ich…“

Es geht ja auch um die Gefahr, dass Dritte das mitlesen und sich dann aufgefordert fühlen, solche Straftaten zu begehen. Der Richter erwähnte, dass es solche Kopfschüsse durchaus schon gab. In Hessen auf Walter Lübcke oder an der Tankstelle in Idar-Oberstein – mit ähnlichen Hintergründen, mit ähnlichen Rechtfertigungen, mit ähnlichen Beschuldigten oder auch Verurteilten, die sich tatsächlich im Netz in Chatgruppen radikalisiert haben.

 

In Ihrer Reportage treffen Sie auch auf einen in der rechten Szene sehr bekannten Anwalt in Chemnitz. Sein Argument: Eine Morddrohung gegen Frau Merkel könne auch als eine Art Wertschätzung gewertet werden.

Das war ein sehr schwieriges Interview. Ich wusste, er wird irgendwann Dinge sagen, mit denen ich nicht einverstanden sein würde, und dass ich das signalisieren muss, ohne ihn zu beleidigen. Meine Antwort war dann: „Das meinen Sie jetzt nicht ernst, oder?“ Darauf musste er nochmal antworten. Da fiel dann auch der Satz, dass sich Frau Merkel ja dadurch vielleicht gewertschätzt fühle. Das war natürlich erkennbar Unsinn. Hier ging es um Volksverhetzung. Der Beschuldigte, den der Anwalt vertrat, hatte gepostet, er „würde Merkel ins KZ stecken“. Das Amtsgericht in Chemnitz hat das trotz Konjunktiv als mögliche Verharmlosung des Holocaust gewertet und sowohl die Hausdurchsuchung als auch die Anklage zugelassen.

 

Ich möchte nochmal einen Schritt zurückgehen: Dieser Fall mit der “Kugel ins Hirn“, war das der Punkt, an dem Sie sich sagten, dazu mache ich eine Reportage, oder hat das schon viel früher angefangen?

Nein, das hat sich erst ergeben, als wir die Fälle gesichtet haben, die uns in dem Fall die Staatsanwaltschaft Göttingen als Beispiele genannt hat. Ich hatte also ein Jahr zuvor angefangen, als das Gesetz gegen Hass im Netz in Kraft trat. Da sagte ich mir, ich will mal sehen, was da anfällt, wer die Täter sind und wie die Verfahren laufen und nach einem Jahr Bilanz ziehen.

 

Wie sind sie das angegangen?

Die konkreten Fragen waren: Was passiert da genau? Auf wen treffen die Ermittler im Alltag? Wer sind die Beschuldigten? Wie reagieren die? Was gibt es da womöglich für Typen? An welchen Hindernissen scheitern die Strafverfolger? Wo haben sie Erfolge? Das waren die Fragen und die Hoffnung war, dass wir auf Augenhöhe sowohl mit den Fahndern als auch mit dem Publikum, diesen Alltag schildern, bis in die Gerichte. Dass ich Fragen stelle, Täter besuche, so als wären Zuschauer und Leser wirklich dabei. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese Formate sehr gut funktionieren, weil man sich darin wiederfindet. Ich stelle jede Frage im Auftrag des Publikums, immer in der Hoffnung, dass sie die dann auch selbst stellen würden.

Dann habe ich mir drei Bundesländer ausgesucht: Sachsen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen. Nach vertraulichen Vorgesprächen stimmten die Ermittlungsbehörden dort zu. Und dann haben wir Stoff gesammelt. Der Film hatte dann eine frühere Deadline als das Buch, deshalb erzählt das Buch vieles zu Ende, was in der ARD-Doku noch offen blieb.

Sie greifen in Ihrem Buch viele Fälle von Hass und Hetze auf. Bei aller Professionalität, sowas lässt einen nicht kalt. Was hat sie am meisten mitgenommen.

Die Alltäglichkeit. Ich war zwar vorbereitet, durch das Lesen der Akten, die ganzen Zitate, diese ganzen abscheulichen Aufforderungen, etwa zum erneuten Attentat auf den Politiker Wolfgang Schäuble. Ich will da gerade nicht in die Wortwahl gehen. Und dann treffen Sie jemanden am Gartenzaun, einen, der wegen Mordaufruf und Beleidigung seinen Strafbefehl bekommen und bezahlt hat… Ich gehe da hin. Kamera läuft. Ich weiß durch seine Facebookeinträge, der hat einen Hund. Ich weiß nicht, was ist das für ein Typ? Ich bin auf alles gefasst. Also nicht darauf, dass er eine Waffe zieht, aber dass er uns anpöbelt oder sagt: “Was wollt ihr? Verschwindet.“ Und dann steht da ein im Grunde netter Kerl, Typ Nachbar, vor mir und sagt. „Ja, das habe ich da mal geschrieben. Aufhängen den Drecksack Walter Lübcke, als er noch lebte.“ Und sagt, okay, war nicht gut und würde ich nicht mehr machen.“ War er reumütig? Er hatte noch einen zweiten Strafbefehl bekommen, weil er die Grüne Claudia Roth beleidigt hat. Und das hält er, glaube ich, immer noch für ein Kavaliersdelikt.

Wenn Sie also den persönlichen Kontakt aufnehmen, lässt sich über vieles reden. Und da fühlt sich das gar nicht mehr so wie aus der Welt gefallen an. Es vermittelt einem dann gerade die Gefahr dieser oft anonymen Chat-Gruppen, wo sich die Welt polarisiert, man über Dritte herzieht und sich dann alles hochschaukelt.

Es sind aber eben nicht nur die netten Nachbarn, mit denen man reden kann. Es ist eben auch der, der dann nach Hause fährt, wie in Idar-Oberstein, der seine Knarre holt, wieder zur Tankstelle zurückfährt und dann schießt.

 

Es ist einfach, Hetze im Netz zu verbreiten. Ist das auch der Punkt, warum die Hetze zunimmt?

Man kann es sicher nicht auf eine Ursache reduzieren. Ich habe mit einem Anwalt gesprochen, der immer häufiger solche Beschuldigte unter seinen Mandanten hat. Ich fragte ihn, wie das kommt. Und der sagt: „Es ist alles digitaler geworden. Die Leute kommen hierher, weil sie einen Strafbefehl bekommen haben. Und ich sage, jetzt zeigen Sie mir mal Ihren Facebook-Account. Und dann steht da alles drin, ein Zitat nach dem anderen. Das alles haben Sie gepostet, das ist öffentlich, das wird auch nicht verschwinden.“ Und da gibt es Menschen, die sagen „glaube ich nicht, war ich nicht“. Und es gibt welche, die sind über sich selbst erschüttert, was sie geschrieben haben. Auf jeden Fall glauben viele Leute immer noch, das sei alles so, als würden sie im Verein, am Stammtisch oder beim Kegeln im Hinterzimmer solche Dinge loslassen. Sie verwechseln diese relative Privatheit mit der öffentlichen Privatheit im Netz, weil sie verkennen, dass das ein öffentlicher Raum ist, in dem viele mitlesen. Es geht dann oft auch jede Gegenrede und Kontrolle verloren, etwa wenn im Verein noch einer sagte: „Nun mach mal halblang“. Im Netz schaukelt sich das eher hoch, in dichten Blasen, bis in angebliche Nachrichtentexte, die dort die Runde machen. Ein Täter in Dresden hat sich in einem Brief an die Staatsanwaltschaft dafür ausführlich entschuldigt. Er schrieb: „Wo bin ich da reingeraten?“

 

Auch wir bekommen immer öfter angebliche Pressemitteilungen geschickt, in denen Mythen über die Coronaimpfung mit falschen Statistiken befeuert werden. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass die Meldungen aus der Querdenkerszene kommen.

Es ist natürlich anstrengend. Nicht nur die Pandemie. Wie lange haben wir entspannende Ostpolitik gemacht und haben die Annäherung an Russland versucht und müssen jetzt lernen, es war ein Trugschluss. Das ist nicht schön, da sein ganzes Weltbild in Trümmern zu sehen und zu sagen, wir müssen uns jetzt möglicherweise wieder daran gewöhnen, wie das damals im Kalten Krieg war. Da ist man natürlich versucht, entsprechende Nachrichten oder was als solche daherkommt, gerne anzunehmen und zu sagen, die sind doch alle gleich schlimm und die nehmen sich nix. Dann kann man sich wieder zurücklehnen und sagen: „Okay, ich muss nichts tun. Ich muss keine unerträglichen Zweifel mit mir rumtragen, sondern es ist eigentlich wieder alles okay.“  Und wir wissen zum Beispiel von dem Kommentaren auf den Facebookseiten der Tagesschau, dass dort als Urheber Fake Accounts dabei sind, russische Quellen vor allem, die bestimmte Thesen in die Diskussion werfen, um sie zu polarisieren und hochzuschrauben und Zweifel an der Demokratie zu schüren.

Foto aus der Reportage. // Foto: Droemer
Foto aus der Reportage. Ein beispiel von Hetze im Netz. // Foto: Droemer
Es scheint ja Unterschiede zu geben bei der Hetze. Manche Posts sind scheinbar persönliche Äußerung oder ein Befreiungsschlag á la „das geht mir auf den Keks“. Und dann gibt es Posts, die Propagandacharakter haben.

Es gibt immer wieder Vorlagen, die munter geteilt und beklatscht werden. Etwa eine Fotomontage, die heutige Parlamentarier als Angeklagte bei den Nürnberger Prozessen zeigt. So als würde die Regierung für ihre Coronapolitik als Kriegsverbrecher verurteilt. Die Urheber können Strafverfolger selten dingfest machen. Diejenigen, die das bejubeln, schon eher.

 

Das Motiv wurde bewusst angefertigt.

Genau. Der Beifall mag spontan und unüberlegt sein. Aber die Montage ist planvoll. Viel Hetze kommt auch aus Trollfabriken, dann ist es oft Propaganda.

 

Wenn es in Ihrer Recherche bereits schwierig ist, wie geht es dann den Strafbehörden? Welche Schwierigkeiten haben diese?

Wir schildern einen Fall aus dem Emsland. Ein Beschuldigter hatte frauenverachtende Fotos, Collagen, meist Vergewaltigung und Mord in Tateinheit abgebildet – nachgestellt. Dazu der Satz „Alle Frauen sind Nutten“. In dem Verfahren argumentiertg der Verteidiger: „Na ja, er hat das zwar als Urheber entworfen. Er nennt es Schock-Kunst. Aber es wurde veröffentlicht über eine russische Website, und das war er ja dann nicht. Das heißt, die Staatsanwälte müssen zweifelsfrei nachweisen, dass Urheberschaft und Veröffentlichung sehr wohl vom Beschuldigten zu verantworten sind.

Wir haben im Raum Bautzen die Antwort einer Täterin gehört, das strafbare Zitat stamme von einem Familienhandy. Ihr Anwalt schrieb, es sei damit nicht nachweisbar, wer es letztlich verbreitet habe. Das ist eine beliebte Strategie. Die Staatsanwältin erwirkte dann eine Hausdurchsuchung, um das Handy auszulesen. Allerdings bestätigte mir der Generalstaatsanwalt in Koblenz, dass das oft ein Problem sei, wie die Amtsgerichte nicht mitziehen. Nicht nur bei Durchsuchungen, auch in Urteilen. Dann gehe der Täter am Ende erhobenen Hauptes aus dem Saal und das Signal unter den Tätern sei: „Seht her, geht doch!“. Das sei dann wie ein Freibrief. Deshalb war er lange sehr vorsichtig mit Anklagen.

Foto aus der Reportage. Ermittler bereiten sich auf die Hausdurchsuchung vor. // Foto: Droemer

Aber dabei blieb es nicht.

Dann passierte Idar-Oberstein – der Mord an der Tankstelle und es passierte Kusel – die Polizistenmorde. Dann kam der Krieg mit seiner Propaganda, wo alle Dämme aufgingen. Und heute sagen der gleiche Generalstaatsanwalt und der gleiche Innenminister: „Wir verfolgen den Judenstern mit der Inschrift ‚ungeimpft‘, als Verharmlosung des Holocaust. Wir verfolgen das ‚Z‘, als Unterstützung eines illegalen Angriffskrieges. Wir verfolgen auch die ‚Likes‘ darunter und bringen das konsequent zur Anklage.“ Sie tun das, um zu zeigen, dass das Internet ein öffentlicher Raum ist, in dem die Gesetze gelten. Und eben kein rechtsfreier Raum.

 

Ich fand es aus journalistischer Sicht sehr gut, als Sie gegenüber dem rechten Anwalt in Chemnitz sagten: „Das meinen Sie jetzt nicht ernst!“ Wir sind zur Neutralität aufgefordert, aber Antworten in so einem Fall nicht stehen zu lassen, fand ich richtig.

Wir haben das Gebot, unabhängig zu berichten. Das heißt aber nicht in jedem Fall, neutral zu sein. Wenn es draußen regnet und die Regierung sagt, es regnet, und die Opposition sagt, es regnet nicht, dann kann ich selber rausgehen und sagen: „Es regnet tatsächlich, die Opposition liegt falsch“. Das gehört zu meinem Job. Natürlich muss ich es dann auch ertragen, wenn in diesem Fall die Opposition vorwirft, ich hätte mich auf eine Seite geschlagen.

Ich habe ja viel auch aus und über Amerika berichtet, über Obama, später dann auch über Trump. Wenn einer offen lügt, ist es doch keine neutrale Position, da beide Seiten zu zitieren, ohne das eine Lüge zu nennen. Die New York Times hat damals eine Grundsatzdebatte geführt, weil das Wort Lüge in unseren aufgeklärten westlichen Nachrichtenmedien bis dahin kaum mehr vorgekommen ist. Wenn es aber eine Tatsache ist, dass jemand gelogen hat, dann müssen wir es auch benennen. Da gibt es kein links und rechts, da gibt es Wahrheit und Unwahrheit. Das ist auch für uns schwierig, klar, und manche neigen dazu zu sagen, ich halte mich da lieber raus, ich zitiere beide Seiten, was wir tatsächlich und zu Recht oft tun, wenn wir es nicht genau wissen. Aber es ist etwas anderes, wenn wir es tatsächlich besser wissen, wie im Falle Donald Trumps, der seine Abwahl nicht wahrhaben will, oder wenn Moskau das Wort „Krieg“ verbietet, obwohl jeder weiß, dass es in Wahrheit einer ist. Da gibt es auch Graubereiche, in denen man aufpassen muss. Etwa, wenn wir von einem „Gericht in Luhansk“ berichten, das Vorwürfe erhebe. Das ist eine selbsternannte Republik, nur anerkannt von Moskau. Das ist nicht das, was wir unter Rechtsstaat verstehen, zu dem unabhängige Gerichte gehören. Natürlich muss man umgekehrt auch hierzulande Schönrednerei jeder Regierung im Blick haben und auf Substanz abklopfen, wenn man Meldungen formuliert.

 

Ich möchte auf Ihr Buch zurückkommen. Kann man die Fälle, die sie gesammelt haben, ins rechts-links-Schema einordnen?

Ich würde wie die Strafverfolger die meisten rechts ansiedeln, weil es um Antisemitismus geht, um Frauenfeindlichkeit, um die Verherrlichung von Putins Krieg und um Ausländerfeindlichkeit. Es gibt aber auch Drohungen von links. Die Fahnder sorgen sich aber auch über immer mehr Ersttäter, die zuvor nie auffielen.

Foto aus der Reportage. // Foto: Droemer
Foto aus der Reportage. // Foto: Droemer

 

Sie haben auch im Buch alle Beschuldigten auf Fotos unkenntlich gemacht. War das auch zu Ihrem Schutz?

Ich habe mich dazu entschlossen, dass wir Täter unkenntlich machen, selbst wenn sie vor Gericht standen und der Prozess öffentlich war oder sie mit einer laufenden Kamera einverstanden waren. Zum einen, weil ich nicht wollte, dass mir ein Teil des Publikums sozusagen übelnimmt, dass wir da einen Einzelnen so ans Licht zerren, nach dem Motto „Jetzt schießen die mit Kanonen auf Spatzen“, zumindest in ihrer Wahrnehmung. Ich wollte diesen möglichen Mitleidseffekt nicht haben.

Ich wollte aber auch nicht, dass jemand einem unserer Befragten die Hütte ansteckt, selbst wenn er alle Strafbefehle bezahlt hat und sich womöglich zu Herzen nahm. Das ist eine schwierige Entscheidung, es gibt Kollegen, die sehen das anders. Um meinen eigenen Schutz ging es mir weniger. Ich habe zwar seit einiger Zeit keinen Namen mehr auf dem Klingelschild stehen und stehe nicht mehr im Telefonbuch. Aber die Drohungen gegen mich persönlich hielten sich bisher in Grenzen.

 

Haben Sie ab und an gedacht, „dem hätte ich so etwas nicht zugetraut“?

Schon wenn Sie die Kommentare unter Tagesschau-Beiträgen im Netz lesen, trauen Sie das oft keinem Menschen zu. Am Gartenzaun schienen mir unsere Beschuldigten tatsächlich vergleichsweise harmlos. Es gab aber auch Gerichtsszenen, da wurde die Selbstgerechtigkeit von Tätern sehr deutlich. In Peine hatte einer gepostet, Annalena Baerbock und andere „sehen durch ein Zielfernrohr viel besser aus. Das lässt mein Herz höher schlagen.“ Das wurde als Beleidigung angeklagt. Er sagte dort breitbeinig, er bestehe auf sein Recht zur Kritik. Er hatte auch „Rotfront verrecke“ gepostet, was eine Formulierung des NS-Regimes ist, deren Verwendung strafbar ist. Das wollte er alles nicht gelten lassen und hielt dem Gericht wahre Vorträge. Nach der zweiten Instanz riet ihm sein eigener Anwalt, damit lieber aufzuhören und das Peiner Urteil wurde rechtskräftig. Das gehörte zu den Szenen, die ins Buch einflossen und die ich grotesk fand.

 

 

Warum tun Sie sich das an?

Ich möchte dazu beitragen, dass wir auch im Netz zu einem routinierten rechtsstaatlichen Umgang finden. Auf dem echten Marktplatz wissen wir, dass es strafbar ist, die Morde von Auschwitz zu leugnen. Das ist strafbewehrt seit vielen Jahren. Es ist nötig, weil es Leute gibt, die das leugnen. Wir kommen da aber nicht mehr auf die Idee, zu sagen: „Ja, aber das verstößt doch gegen die Meinungsfreiheit.“ Das wünschte ich mir in unseren erhitzten Netzwerken auch.

Ich habe ja selber auch Follower bis hin zu Wegbegleitern aus Kindertagen, die manchmal Dinge teilen, wie “Die Bundesregierung ist korrupt und der Lindner besonders“ und so. Da schreibe ich schon mal zurück: „Nur mal nebenbei, Freunde, man muss kein Fan von Politikern sein. Hier nicht und anderswo nicht. Aber ihr müsst bitte bedenken, ein öffentlich geäußerter Korruptionsvorwurf ist dünnes Eis. Das kann teuer werden. Überlegt euch das doch lieber nochmal.“ Das muss im Netz klarer werden.

Möchten Sie da noch etwas konkreter werden?

Wenn ich bei rot über eine Ampel fahre, zu schnell fahre oder falsch parke und ich mache das zu oft, dann ist mein Führerschein weg. Da kann ich auch keinem Beamten erzählen, dass ich eine komplizierte Persönlichkeit bin, dass ich eine schwierige Kindheit hatte oder dass ich irgendwie schnell nach Hause musste. Da zahle ich mein Bußgeld und beim nächsten Mal weiß ich es. Und diese routinierte Geschäftigkeit des Rechtsstaates, die es hier gibt, die würde ich mir dort auch wünschen. Die Routine, die wir im Internet nicht haben, vielleicht noch nicht haben können, die wird kommen. Und die muss schnell kommen.

Klaus Scherer konfrontiert einen Hassredner mit dessen Posts. // Foto: Droemer
Klaus Scherer konfrontiert einen Hassredner mit dessen Posts. // Foto: Droemer
Kommen wir nochmal zum Thema Propaganda. Denken Sie, dass wir, die Presse, zu zaghaft war, im Umgang mit problematischen politischen Entwicklungen etwa in der Türkei oder in Russland?

Natürlich muss man darüber kritisch berichten und wir wissen von den Entwicklungen ja durch die Berichterstattung. Man muss aber auch realistisch sein, was man bewirken kann und was nicht. Ich habe einen klugen Kollegen aus meiner Zeit in Asien, der beispielsweise sehr früh davor gewarnt hat, den Studenten in Hongkong die Hoffnung zu machen, dass wir sie beschützen können gegen das Regime in Peking. Und er hat leider Recht behalten. Wir haben nur begrenzte Mittel, anderswo Dinge zu bewirken, wir für rechtsstaatlich geboten halten. Ich sage jetzt nicht, dass das überall der Fall ist. Natürlich kann man sich darüber unterhalten, ab wann oder wie lange man EU Gelder nach Polen, nach Ungarn usw. freigibt, obwohl dort Standards, die man sich in der EU wünscht, nicht beachtet werden. Die Diskussion wird ja auch geführt.

 

Ich würde noch mal gern den Bogen spannen zum Buch. Was war an der Recherche und der Arbeit das Schwierigste?

Ich habe lange gebraucht, um Zugang zu bekommen zu einem LKA, das uns unter Auflagen bei einer Hausdurchsuchung zuschauen lässt. Ich habe dann immer gesagt: „Wissen Sie, wenn Sie sich als Ermittler eine Doku anschauen oder ein Buch lesen über den Alltag der Ermittler und Sie sehen nur Schreibtische und Mausklicks, da sagen sie doch als erste: ‚Wie stellen die uns denn dar?‘ Also helfen Sie uns.“ Was mich sehr erleichtert ist, dass ich abbilden konnte, wie vielfältig das Thema uns im Alltag einholt. Das wurde ein breiter Bogen an sehr unterschiedlichen Fällen, ohne dass ich krampfhaft Dubletten hätte entfernen müssen. Das ist nicht immer so.

 

Die Szene der Hausdurchsuchung fand ich sehr eindrücklich. Noch eindrücklicher fand ich allerdings die Szene mit Claudia Roth.

Ich selbst auch. Das hat mir noch mal die Augen geöffnet. Ich bin diesem Mann am Zaun recht dankbar gewesen, dass er so offen mit uns geredet hat. Als ich Frau Roth dann da sitzen sah, die sich das Gespräch über die Beleidigung anhört, mit kleiner werdenden Pupillen, und sagt, „der hat ja gar nichts verstanden“, da wurde mir wieder klar, dass das nicht hinnehmbar ist.

 

Auch wir Lokaljornalisten sind mit diesen Dingen konfrontiert. Etwa, wenn wir über Corona-Impfungen berichtet haben. Dazu kamen auf Facebook Kommentare, die teils anstrengend waren. Und irgendwann ist mir dann auch die Hutschnur geplatzt. “Warum glauben Sie irgendeinem Anonymen auf Facebook mehr als uns, der freien Presse?“, habe ich da gefragt. Darauf kam dann die relativ hilflose Antwort: „Können Sie denn alles beweisen, was Sie da schreiben?“

Das meine ich mit Routine. Wenn wir den Eindruck haben, weil wir die jetzt nicht alle überzeugen, sind wir nicht gut genug. Wir denken dann immer gleich, wir müssen besser sein. Wir müssten ein besseres Argument liefern. Überzeugen Sie mal einen Trumpisten oder einen Putinisten. Werden Sie nicht schaffen. Ich darf aber dann nicht nach Hause gehen und sagen, „Die richtige Antwort ist mir nicht eingefallen. Es lag an mir.“ Wir haben da keine Routine. Wie auch? Dass wir in den Kommentarspalten lesen können, was Leute alles denken, ist recht neu. Wir können heute quasi Gedanken lesen, wie man sich das als Kind manchmal wünscht. Und jetzt haben wir den Salat. Wir können sie lesen und müssen sie sortieren und sagen: „Um die muss ich mich gar nicht kümmern. Hier sind welche, da versuche ich es wenigstens mal. Hier habe erkenne noch gesunde Zweifel, und wenn wir die beide haben und einräumen, dann können wir uns auseinandersetzen.“ Ich gehe aber selten in den Nahkampf, der verdirbt mir den Tag.

 

Ihr Fazit?

Die Netzwelt sortiert bisher nicht. Nicht in falsch und richtig, in gut und böse, in Meinung und Nachricht, in Substanz und Müll. Jeder, der will, kann dort alles finden und lesen und sich zu eigen machen. Man muss also mehr selbst sortieren und entscheiden und aushalten. Das ist anstrengend und überfordert manche, aber es ist leider so.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

ZUR PERSON:

Klaus Scherer ist ein vielfach ausgezeichneter NDR-Journalist und Autor. Er lebt in Hamburg.
Sein aktuelles Buch „Kugel ins Hirn“, erscheint Anfang Oktober im Droemer Verlag. Es baut auf
seine Recherchen zur ARD-Doku „Hass im Netz“ auf, die 2021 lief. Das Gemeindehaus Rissen lädt
am 1. November 2022 zur Lesung und Diskussion mit dem Autor.

Auch interessant