29. Mai 2023
Interviews

„Glück ist lernbar“ — Interview mit Hannelore Lay

Seit 19 Jahren setzt sich Hannelore Lay mit ihrer Stiftung für die Chancengleichheit von Kindern in Hamburg ein. Im Interview verrät sie, warum sich der ursprüngliche Stiftungsansatz verändern und erweitern musste.

Hannelore Lay gründete vor 19 Jahren mit ihrem Ehemann die Stiftung Kinderjahre.

Hannelore Lay gründete vor 19 Jahren mit ihrem Ehemann die Stiftung Kinderjahre. // Foto: Stiftung Kinderjahre

Frau Lay,  aus welchem Anlass haben Sie und Ihr Mann die Stiftung Kinderjahre 2004 gegründet?

Wir wollten mit der Stiftung Kinderjahre insbesondere Kindern, deren Elternhaus dies nicht leisten kann, zu besseren Bildungschancen verhelfen. Gestartet sind wir zunächst mit dem Ansatz, Schulkleidung in Hamburg einzuführen und haben darüber den Kontakt zu Schulen aufgenommen.

 

Warum war gerade Schulkleidung so wichtig für Sie?

Wir wollten damit das Wirgefühl stärken. Hinzu kam, dass zu der Zeit ganz massiv „Abziehdelikte“ unter Jugendlichen stattfanden: Kinder wurden auf dem Schulweg überfallen, um an beliebte Markensachen zu kommen. Auch Diebstähle in Turnhallen  gab es viel. Schulkleidung hätte das verhindern können.

Die Idee setzte sich aber nicht durch, auch deshalb, weil Eltern in stabileren Vierteln Neigungen zu bestimmten Kleidungsfarben für ihre Kinder hatten.

 

Das war also ein Wendepunkt gleich zu Beginn der Stiftungsarbeit?

In gewisser Weise ja. Als wir die Schulen ansprachen, stellten wir außerdem fest, dass sie ganz andere Sorgen haben.

Damals gab es den Ganztag noch nicht an den Hamburger Schulen. Vielerorts boten die Schulen für Kinder Essen an, von denen sie genau wussten, wenn die nach Hause kommen, kriegen sie nichts mehr. Wir wurden auf eine Schule aufmerksam, die regelrecht pleite war. Der Schul-Caterer wollte wegen Zahlungsrückständen die Lieferung einstellen.

Wir haben „Löcher gestopft“, indem wir an verschiedenen Schulen Essens-Schulden bezahlt haben. So kamen wir von unserem ersten Thema immer mehr ab.

 

„Wir brauchten eine Veränderung“

Haben sich noch weitere Dinge verändert?

Unser Ansatz ist es gewesen, so früh wie möglich fördernde und unterstützende Angebote für Kinder zu machen, das heißt, bereits im Kindergartenalter. Praktisch hat sich aber herausgestellt, dass die Verweildauer im Kindergarten zu kurz ist, um die Erfolge bewerten zu können und wir werden als Stiftung an unseren Erfolgen gemessen.

Daher ist es seit Jahren nun so, dass wir unseren Fokus mehr auf Schulkinder legen.

 

Heute tun Sie weit mehr als Löcher zu stopfen. Wie gelang das?

Das mit dem Löcher-Stopfen klang nicht besonders gut. Es war immer viel Überzeugungsarbeit nötig. Wir brauchten eine Veränderung: So gaben wir uns einen Leitfaden und starteten jetzt mit eigenen Projekten an den Schulen, die sich für eine Partnerschaft entschieden hatten.

 

Wonach werden die Partnerschulen ausgesucht?

Unsere Partnerschulen befinden sich fast ausschließlich in sogenannten Brennpunktgebieten. Bei einem großen Teil der Elternschaft handelt es sich um Leistungsempfänger und damit bei der Schülerschaft um Kinder und Jugendliche, die sogenannte Bildungs- und Teilhabemittel erhalten.

Schulen werden in Hamburg nach einem Faktor gemessen, der das soziale Niveau widerspiegelt (KESS-Faktor 1 bis 6). Die Partnerschulen der Stiftung Kinderjahre sind Schulen mit KESS-Faktor 1 bis 3, das ist der Bereich des unteren sozialen Niveaus.

 

Ihre Projekte finden immer im Klassenverband statt. Warum ist das so?

Zum einen findet so keine Stigmatisierung statt. Einzelbetreuung gibt es  nur in ganz wenigen Ausnahmen und ist dann streng vertraulich.

Hinzu kommt, dass es rein praktisch schwierig ist, Klassen zu teilen, weil die begleitenden Lehrkräfte in der Schule für diese Zeit fehlen und der zurückbleibende Teil der Schüler ebenfalls betreut werden müsste.

Wir holen die Klassen immer heraus aus der Schule, hin zu Unternehmen, Museen und anderen außerschulischen Lernorten.

 

Stiftung Kinderjahre - Besuch bei Mineralwasser-Firma mit Kindern
Die Stiftung Kinderjahre besucht mit Schulkindern eine Mineralwasserfirma. Die Kinder lernen die verschiedenen Arbeitsplätze hautnah kennen und dürfen sich selbst bei manchen Aufgaben versuchen. // Foto: Stiftung Kinderjahre

 

„Das ist nicht irgendwie utopisch …“

Kommen wir zurück zum Fokus auf die älteren Jahrgänge …

Hier haben wir unser Leuchtturmprojekt „Learning Kids“ – eines von rund zehn Projekten –, das meist ab der sechsten Klasse startet. Hierfür suchen wir Unternehmenspartner, also Unternehmen, die unsere Kinder einladen, um ihnen den Betrieb zu zeigen. In Zeiten dieses massiven Fachkräftemangels möchten die Unternehmenspartner am liebsten 17-jährige einladen, die sich möglichst nach so einem Besuch für ein Praktikum anmelden oder auch eine Ausbildung machen. Wir haben damit schon einige Schülerinnen und Schüler in Ausbildungsplätze vermitteln können. Rund 3.000 Kinder und Jugendliche haben jährlich direkten Kontakt zu unserer Stiftung. Die meisten kommen über „Learning Kids“ zu uns.

 

Gegen Berufsvorbereitung hat wohl niemand etwas einzuwenden, aber warum springt Ihre Stiftung hier so in die Bresche?

Jede Schule bietet, zumindest in der Oberstufe, eine Berufsvorbereitung. Aber das ist dort ein ganz anderer Ansatz als unserer.

Wir gehen jeden Tag in der Woche mit Kindern in Unternehmen und zeigen ihnen brandaktuell Arbeitsabläufe und Unternehmen. Die Kinder sehen, dass es eine ganz normale Sache ist, zur Arbeit zu gehen. Das ist nicht irgendwie utopisch oder fremd und schon gar nicht böse. Sondern es ist die Möglichkeit, Ziele für das eigene Leben zu erreichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ein Einkommen zu haben. Im Gegensatz zu dieser Lebenswirklichkeit gibt es Familien an unseren Schulen, in denen niemand bekannt ist, der arbeitet.

Wir zeigen den Kindern, wie wichtig der regelmäßige Schulbesuch ist und Schritt für Schritt ins Leben zu gehen, ohne Ziele gleich abzuwiegeln. Es gibt kein „Das schaffst Du eh nicht.“

 

Die Kinder sehen also, dass auch sie diese Möglichkeiten haben?

Ja. Die Partner vor Ort ermutigen zum Ausprobieren und sagen: „Versuch doch mal. Du kannst das.“ Es ist entscheidend, dass eine außenstehende Person ihnen etwas zutraut. Es geht aber auch darum, herauszufinden, was sie nicht mögen.

 

Glück als Schulfach?

Sie schreiben auf Ihrer Homepage, Glück sei lernbar. Ist das ein Stück weit damit gemeint?

Ganz genau. Wir sagen, dass unsere Projekte alle unter dem Dach von „Lernfach Glück“ angesiedelt sind. Denn mit all unseren Projekten geben wir den Kindern einen positiven Einblick in Situationen, die ihr Leben verbessern können.

 

Vorrangiges Ziel Ihrer Stiftung ist die Chancengleichheit für Kinder. Wäre es da nicht besser, sich um die Erwachsenen zu kümmern, die für die Chancenverwirklichung zuständig sind?

Wir wünschen uns eigentlich immer, dass die Eltern ein Stück weit mitgenommen werden, machen aber die Erfahrung, dass wir an sie nicht rankommen. Sie sind mit ihren eigenen Themen beschäftigt.

Wir dürfen nicht vergessen, es gibt viele Familienmodelle und auch Alleinerziehende, die überfordert sind. Schule und Elternhaus stellen eigentlich die beiden Säulen der Erziehung dar. Doch das Elternhaus kann das Nötige oftmals nicht leisten. Da sehen wir uns schon so ein bisschen als dritte Säule für diese Erziehungsbasis.

 

Hat der Krieg in der Ukraine Ihre Arbeit verändert?

Wenn Schülerinnen und Schüler aus Krisen- oder Kriegsgebieten bei uns eingeschult werden, ist oftmals eine Erstausstattung mit Schulranzen und weiterem Schulzubehör erforderlich und auch Versorgung mit angemessener Kleidung. Das ist laufend so und hat sich durch den Angriffskrieg auf die Ukraine fortgesetzt. Außerdem haben wir in Hamburg seit Jahren die Inklusion. Das bedeutet, dass alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichtet werden. Dabei spielen weder Nationalität, Herkunft, Handicap noch Elternhaus eine Rolle.

Die Schulen haben Willkommensklassen gegründet, in denen Kinder mit Fluchthintergrund unterrichtet werden, bis sie ihre Sprachkenntnisse so weit entwickelt haben, dass sie am Regelunterricht teilnehmen können.

 

Sie sind fast täglich für Ihre Projekte im Einsatz. Haben Sie jemals frei?

Nein. Ich habe keine Familie mehr und in der Zeit, die ich frei habe und Dinge unternehme, komme ich überwiegend mit Menschen zusammen, die wissen, dass ich diese Stiftung leite. So überschneiden sich diese Bereiche, was für mich aber auch wahnsinnig wichtig ist, denn ich brauche all diese Kontakte, um in jedem Fall zu wissen, der hat eine Wohnung, da kann ich nach Bettwäsche fragen und so weiter.

Ich sage immer, ich arbeite in zwei Schichten: einmal von zehn bis 16 Uhr und dann noch mal von 18 bis 23 Uhr am Feierabend, um die Kontakte zu pflegen und eben auch private Dinge mit der Stiftung zu verknüpfen.

 

Frau Lay, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

 

Zur Person

Hannelore Lay gründete 2004 gemeinsam mit ihrem Mann Wolfgang Lay die Stiftung Kinderjahre, um gleiche Bildungschancen für Kinder gerade aus benachteiligten Familien zu schaffen.
Die Stiftung arbeitet mit fast 40 Schulen in Brennpunktvierteln Hamburgs zusammen.

Neben der Stiftung Kinderjahre war Hannelore Lay außerdem 18 Jahre lang für den evangelischen Martin-Luther-Bund in leitender Position tätig und unterstützt über ein breites Stiftungsnetzwerk auch andere, karitative Einrichtungen. Für Ihr Engagement erhielt sie 2015 das Bundesverdienstkreuz am Bande.

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