Die Vergangenheit hatte einen langsameren Takt. Dinge passierten gemächlich und die hektische Konkurrenz unserer Zeit war unbekannt. Falsch. Am 14. Februar 1876 ging es in Washington D.C. um wenige Stunden. Der Grund war das Telefon.
Der Rechtsanwalt Gardiner Greene Hubbard läuft über die Straße auf eine Art griechischen Tempel zu. Das riesige Gebäude liegt auf halber Strecke zwischen Weißem Haus und Kapitol. Es ist das US-Patentamt. Hubbards Klient steckt in Boston fest und hat seinen Anwalt zu größter Eile gedrängt. Hubbard rennt die Stufen des Haupteingangs hinauf und reicht wenig später eine Erfindung zum Patent ein.
Zwei Patente fürs Telefon
Am selben Tag wiederholt sich die Szene. Ein weiterer Mann rennt über die Straße, stürmt die Stufen hinauf und reicht seinerseits ein Patent an.
Die Urkunde, die Hubbard Anfang März erhält, trägt seinen eigenen Namen als „witness“ und den seines Klienten als „inventor“. Der Klient ist Alexander Graham Bell, der im August vor nun genau 100 Jahren starb. Der gebürtige Schotte gilt seitdem als Erfinder des Telefons. Wer es mit der Geschichte genau nimmt, weiß jedoch: Er war es nicht, zumindest nicht allein.
Der Italiener Antonio Meucci, der deutsche Philipp Reis, der US-Amerikaner Elisha Gray, der Schotte Alexander Bell: Sie alle wussten voneinander. Sie studierten die Arbeit des anderen, beschafften sich sogar Vorführungsgeräte konkurrierender Werkstätten. Sie erforschten, kopierten, kollaborierten und wurden zu erbitterten Konkurrenten.
Gibt es den einen Erfinder?
Antonio Meucci (1808 bis 1889) forschte seit den 1830er Jahren an der Schallübertragung mittels elektrischer Schwingung. Nach seiner Übersiedlung in die USA konstruierte er erste Apparate, die beispielsweise das Krankenzimmer seiner Frau mit seiner Werkstatt verbanden.
Philipp Reis (1834 bis 1874) hatte ebenfalls ein Gerät entwickelt, das Schall durch elektrische Leitungen schickte. Er führte es 1861 in Frankfurt vor und gab ihm seinen heutigen Namen: Telephon. Reis fertigte eine größere Anzahl des Apparats an und verschickte ihn treuherzig in alle Welt, als wissenschaftliches Demonstrationsobjekt. Alexander Bell sah diese Reis’sche Versuchsanordnung 1862 in Edinburgh und erkannte das Potentzial.
Elisah Gray (1835 bis 1901) war ein versierter Tüftler auf dem Gebiet der Telegrafie. Er besaß zahlreiche Patente, betrachtete sich jedoch nicht nur als Wissenschaftler oder Erfinder, sondern auch als Unternehmer, der Elektroartikel vertrieb. Gray hatte detaillierte Versuche mit der Schallübertragung mittels elektrischer Leitungen angestellt, war sich über die theoretische Funktionsweise im Klaren und über die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Er schrieb ein detailliertes Patentgesuch und fuhr damit nach Washington. Gray war jener zweite Mann hinter Rechtsanwalt Hubbard.
Streit ums Telefon
In den Jahren nach 1876 geschahen zwei Dinge: Das Telefon verbreitete sich explosionsartig über den Globus, Kommunikationsunternehmen entstanden, von denen einige heute noch existieren. Und der wohl berühmteste Patentstreit der Menschheit brach aus.
Elisah Gray klagte gegen Alexander Bell. Der pochte auf seinen zeitlichen Vorsprung um ein paar Stunden. Gray wiederum führte diesen auf Korruption zurück. Er argumentierte außerdem mit seinem wesentlich aussagekräftigeren Patentgesuch. Tatsächlich unterscheiden sich die eingereichten Unterlagen. Alexander Bell hatte das Telefon in groben Zügen skizziert. Es wurde deutlich, dass er die Konkurrenz gesehen und dementsprechend eher auf Geschwindigkeit denn auf Plausibilität gesetzt hatte.
Später kam heraus, dass Bells erste Konstruktion Teile enthielt, die in seiner Patentschrift nicht vorkamen – wohl aber in Grays. Bell hatte jedoch die besseren Anwälte und mehr Unterstützung durch Investoren. Hubbard war nicht nur sein Anwalt, sondern auch Geschäftsmann. Er hatte Bell unterstützt und erhielt im Gegenzug nun eine Beteiligung an den Erträgen. Das Konsortium aus Hubbard, Bell und dem Investor Thomas Sanders setzte sich in mehreren Gerichtsverhandlungen durch. Das Patent blieb bei Bell. Fortan konnte er seiner Konkurrenz untersagen, bestimmte technische Lösungen zu verwenden.
Hier ist ein Phänomen zu beobachten, dass in der Geschichte der Technik immer wieder auftaucht. Vereinfacht gesagt: Erfindungen in den USA und Großbritannien wurden sofort nach Bekanntgabe auf ihr kommerzielles Potenzial hin abgeklopft. Erkannten Investoren dieses Potenzial, gründeten sie rasch die entsprechenden Unternehmen und bemühten sich um Rechtssicherheit.
In Deutschland hingegen stießen technische Neuerungen auf größere Skepsis und einen weniger weit entwickelten Kapitalismus. Der deutsche Erfinder war häufig kein Unternehmer, sondern ein tüftelnder Wissenschaftler, eher an Erkenntnis und Nutzen interessiert, als an der raschen Vermarktung.
Der Erfolgsmarsch des Telefons
Zurück zu Alexander Bell. Nach dem Sieg im Patentstreit begann die neu gegründete Bell Telephone Company mit der Weiterentwicklung und Kommerzialisierung der Technik.
1877 kam das erste Bell-Telefon in Deutschland an. 1881 wurden die ersten Fernsprechnetze eingerichtet. Fortan entstanden jene Szenen, die wir heute nur noch aus Filmen kennen. Jemand nimmt den Hörer zur Hand und kurbelt (siehe Bild). Es gab keinerlei Wahlvorrichtung, sondern nur diese Kurbel, mit der man einen Stromstoß ins Amt jagte und so mittels eines Lämpchens auf sich aufmerksam machte. Leuchtete die Lampe, dann wusste der Beamte, dass da jemand eine Verbindung wünschte. Der Beamte ließ sich den gewünschten Anschluss mitteilen und stellt die Verbindung dann per Hand mit Hebel, Stecker und Buchse her. Das war genauso umständlich, wie es klingt, galt aber dennoch als Gipfel der Effizienz. Dementsprechend war die Nachfrage gewaltig. Kurz vor dem ersten Weltkrieg vermittelte allein ein Fernsprechamt in der Schlüterstraße monatlich 1,4 Millionen Orts- und über 310.000 Ferngespräche.
Ein Kuriosum am Rand: Das Amt war zunächst in der Hand von Männern. Die ersten Kunden stellten jedoch rasch fest, dass Männerstimmen bei der rudimentären Verbindungsqualität miserabel zu verstehen waren. Helle Stimmen, wie die von Frauen, waren jedoch tadellos zu hören und so wurde der Herr zum Fräulein vom Amt – und dieses Fräulein hielt sich, zumindest bei internationalen Telefonaten – bis in die 80er Jahre.
Teure erste Gespräche
Wer aber waren in Deutschland die ersten Kunden? Die einfachen Bürger sicher nicht. Die ersten Anschlüsse kosteten um die 200 Mark pro Jahr – bei Monatslöhnen um die 50 Mark. Tatsächlich waren es eher Geschäftsleute, die sich durch schnellere Nachrichtenübermittlung einen Wettbewerbsvorteil versprachen oder zumindest eine bessere Organisation. Wenn zum Beispiel ein Reeder erfuhr, dass eines seiner Schiffe in dieser Sekunde in der Elbmündung gesichtet wurde, konnte er in Hamburg entsprechende Vorkehrungen zum Entladen treffen. Es wundert daher nicht, dass Hamburg in den 1880er Jahren die deutsche Stadt mit den meisten Telefonanschlüssen war, noch vor Berlin. Zu den Kunden gehörten an der Elbe Firmen wie die Reederei Laeisz, Hapag und auch Banken wie Berenberg.
Die Mitte der Gesellschaft, die Bürger und kleinen Leute, betrachteten das Telefon nicht ohne Misstrauen. Dennoch veränderte die Neuerung über die nächsten Jahrzehnte nicht nur die Kommunikation, sondern auch Alltagsgewohnheiten. Vor seiner Erfindung war es akzeptiert, unangekündigt als Besucher zu erscheinen – zumindest in der eigenen Stadt – für einen Plausch oder auch ein Abendessen. Das änderte sich mit der Möglichkeit, kurz „durchzurufen“.
4.200 Kilometer Kabel
Während sich nun der Ausbau von kontinentalen Telefonnetzen technisch gesehen beherrschen ließ, waren die Schwierigkeiten gewaltig, sobald ein Ozean in die Quere kam. Auch ein Telefonat zwischen Berlin und New York setzte eine schnöde Kabelverbindung voraus.
Die Verlegung der großen Transatlantikkabel ab 1850 (zunächst für Telegrafie) ist eines der interessantesten Kapitel der Technikgeschichte. Die Aufgabe war einschüchternd: Ein armdickes Kabel mit einer Länge von ca. 4.200 Kilometern musste aufgerollt werden wie ein Gartenschlauch. Es füllte so eine gewaltige Lagerhalle, die nun schwimmfähig gemacht werden musste und dann über den Atlantik fuhr.
Hier ergab sich eine Aufgabe für Schiffe wie die „Great Eastern“, die ihrer Zeit um ca. 50 Jahre voraus war. Das Schiff hatte die Abmessung eines Containerfrachters und konnte mit einer Ladung Kohlen die Welt umrunden. Stapellauf war 1858 – ein Jahr in dem der Massentourismus noch nicht erfunden war. Die „Great Eastern“ ließ sich daher als Passagierschiff entgegen den Hoffnungen der Erbauer nicht wirtschaftlich betreiben. Aber das große Transatlantikkabel passte in die Laderäume!
Zunächst jedoch Fehlschläge: So brach einmal das Kabel 600 Kilometer vor dem Ziel und ließ sich nicht mehr bergen. Als schließlich ein Seekabel unbeschädigt in Betrieb genommen werden konnte, hielt es nur kurze Zeit – und galt dennoch als Erfolg.
Hohe Preise, lange Wartezeiten
Die Nachrichtenkapazität der ersten Kabel war gering. Sie wurden hauptsächlich für Morsezeichen zwischen den Kontinenten genutzt. Bis zur ersten transatlantischen Telefonverbindung zwischen Schottland und Kanada sollte es noch Jahrzehnte dauern. Tatsächlich nahm das „TAT-1“ – das „Transatlantische Telefonkabel 1“ seinen Betrieb 1956 auf. Es war 3.600 Kilometer lang und konnte sage und schreibe 36 Telefonate zwischen Amerika und Europa gleichzeitig übermitteln. Man konnte daher nicht einfach zum Hörer greifen, sondern musste das Gespräch anmelden. Wartezeiten über Tage waren die Regel.
Die Preise eines solchen Gesprächs waren dann exorbitant. US-Quellen führen auf: drei Minuten zu Tagesgeschäftszeiten 12 Dollar, 9 Dollar am Abend und an Feiertagen. 12 Dollar waren ca. 48 D-Mark – der halbe Wochenlohn eines Facharbeiters.
Aber die Leute zahlten und empfanden den Preis sogar als vergleichsweise günstig. Ein Transatlantikgespräch per Langwellenfunk von England in die USA hatte in den 20er Jahren nämlich neun englische Pfund pro angefangene drei Minuten gekosten. Von Berlin aus waren 330 Mark fällig – ein kleines Vermögen, das sich allenfalls Unternehmen leisten konnten, und das auch nur, wenn es brannte.
Das Telefon verliert an Relevanz
Das letzte staatlich betriebene Transatlantikkabel war TAT-14. Es wurde 2020 unbeachtet von der Öffentlichkeit außer Betrieb genommen. Seitdem existieren nurmehr von Firmen betriebene Kabel, die zum größten Teil Internetdaten übertragen. Denn die Blütezeit des Telefons ist vorbei.
In Deutschland meldete der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und Medien (BITKOM) bereits 2015: „Datendienste überholen Sprachdienste zum ersten Mal.“
Es ist ein globales Phänomen: Messenger-Dienste und E-Mails haben das klassische Telefonat überflügelt. Der Grund mag in der Effizienz liegen, aber auch in der menschlichen Psyche: Ein klingelndes Telefon setzt uns unter Zugzwang. Die Antwort auf eine SMS kann hingegen erwogen werden. Nicht ganz zu Unrecht hat das unangekündigte Telefongespräch daher heute etwas Halbseidenes. Man denkt an Marktforschung und Kaltakquise und liegt damit häufig richtig.
Jemanden einfach anzurufen ähnelt immer mehr einem unangekündigten Besuch. Es ist auffällig, dass gerade junge Menschen eine unbekannte Nummer misstrauisch beäugen und dann entweder gar nicht drangehen oder sich mit einem „Hallo“ wegducken, während ältere mehr oder weniger forsch ihren vollen Namen nennen.
Als liebenswertes Relikt steht das Telefon jedoch weiterhin hoch im Kurs. Wer kann schon an einem 50er-Jahre-Telefon vorbeigehen, ohne einmal die Scheibe rattern zu lassen. Und wer würde nicht gerne den Hörer heben und sagen: „Hallo, Amt? Geben Sie mir New York! Es brennt!“
Berühmte erste Worte am Telefon
Am 26. Oktober 1861 räusperte sich der deutsche Erfinder Johann Philipp Reis und sprach durchs Telefon zu den Mitgliedern des Physikalischen Vereins in Frankfurt a. M. folgende Worte:
„Das Pferd frisst keinen Gurkensalat.“
Wie war Reis auf diese epochemachenden Worte gekommen? Die Geschichtsschreibung schweigt hierzu.
Das erste Telefonat in Hamburg fand am 18. April in der Redaktion des „Hamburgischen Correspondenten“ statt. Die Ehre gebührte dem Opernsänger Eugen Gura, der nach längerem Überlegen einen völlig anderen Ansatz wählte als Reis. Gura sang eine Arie.
Cleo F. Craig, Präsident von AT&T gab sich hingegen geschäftsmäßig im ersten Gespräch zwischen New York und London durch das 1956 fertiggestellte Kabel TAT-1. „This is Cleo F. Craig in New York, calling Dr. Hill in London …“