Herr Dibaba, aus aktuellem Anlass: Die neue Regierung geht das Thema Migration deutlich konservativer an als bisher. Sie haben selbst Fluchterfahrung. Wie blicken Sie auf die neuen Entwicklungen?
Ich finde, Migration ist eine Realität, die auch nicht neu ist. Migrieren heißt „wandern“. Und es ist ein Menschenrecht, von A nach B zu wandern und dort dann auch unter menschenwürdigen Verhältnissen leben zu dürfen. Ich fühle mit diesen Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten. Ich bin selbst als Vertriebener hierher gekommen und weiß, was das bedeutet.
Die Debatte um das Asylrecht wird derzeit in einem Atemzug mit der Landessicherheit diskutiert …
Hier werden zwei Dinge miteinander vermengt: Migration und Gewalt. Um Kriminelle und psychisch kranke Gewalttäter müssen wir uns immer kümmern, ganz unabhängig von der Herkunft der Täter.

Viele sehen Migration dennoch zunehmend als Problemquelle an.
Hier wurde und wird so getan, als ob wir keine anderen Probleme hätten. Wir haben Dutzende Probleme – Wohnungsmangel, Altersarmut, das Rentensystem, unsere Infrastruktur … Aber diese Dinge können wir nicht durch eine Migrationsdebatte lösen.
Als Kind kamen Sie mit Ihrer Familie zunächst nach Deutschland und gingen dann nach Äthiopien zurück, bis Sie wegen des Bürgerkriegs über Kenia nach Deutschland flüchteten. Wurden Sie gleich mehrfach entwurzelt?
Ja. Aber als Kind war das für mich nicht so schwierig. Kinder sind oft sehr anpassungsfähig. Je älter wir werden, desto schwerer fällt uns Anpassung. Und desto mehr müssen wir uns Lust auf Veränderungen machen.
Was haben Sie aus Deutschland damals mit nach Äthiopien genommen und andersherum, vor allem ideell?
Heute sehe ich es so: Es war für uns ein Vorteil, dass wir etwas anderes gesehen hatten. Eine andere Sprache, eine andere Mentalität. Wir hatten es unbewusst in uns, dass es verschiedene Lebenswirklichkeiten gibt. Ich glaube, das schafft eine gewisse Offenheit und auch Flexibilität, mit zehn Jahren schon in drei verschiedenen Ländern gelebt zu haben.
Es heißt, von Ihrem ersten Deutschlandaufenthalt nahmen Sie ein Buch mit, „Kinderbriefe an den lieben Gott“. Dieses Buch und der Glaube, waren das Rettungsanker für Sie?
Ja. Der Glaube gab und gibt mir Halt, Kraft, Ruhe und auch Orientierung.
Damals so in der Art „ich empfinde etwas besonderes, wenn ich dieses Buch bei mir habe oder wenn ich an Gott denke“?
Das war tatsächlich so. In dieser Angst und Ohnmacht im Bürgerkrieg, als ich diese schrecklichen Dinge sah … Leichen, Schießereien … Da ist man als Kind völlig fassungslos. Ich konnte es nicht einordnen, auch wenn unsere Eltern alles versuchten, uns irgendwie ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Da half mir der Glaube.
2023 wurden Sie Mitherausgeber des evangelischen Magazins Chrismon. Dort schrieben Sie in einem viel beachteten Artikel über Fluchterfahrung, Migration, die Drohung der Remigration und warum sie ein Teil dieses Landes sind.
Es gab nicht nur Lob. Manche meinten, ich hätte übertrieben. Ich würde aus einer privilegierten Position heraus schreiben.
Mit Ihren Erlebnissen im Gepäck, wie ist es da für Sie, wenn das Schicksal Geflüchteter kleingeredet wird?
Erst mal gibt es nicht die Geflüchteten. Und es gibt auch nicht die Menschen, die über Geflüchtete reden. Aber es gibt eine bestimmte Meinung über Menschen, die geflüchtet sind. Hier wünschte ich mir mehr Empathie, eine andere Sicht auf die Dinge.
Ich wünsche mir mehr Empathie!
Wie könnte man das erreichen?
Indem wir die guten Beispiele zeigen, Menschen, die sich erfolgreich in der Gesellschaft engagieren. Davon gibt es nämlich sehr viele. Diese Menschen sollten wahrgenommen werden. Wie bei der Stiftung „To Huus“, die versucht, Menschen ein neues Zuhause zu schaffen.
In dem erwähnten Artikel zwingen Sie die Leserschaft ganz sanft dazu, eine „andere Sicht“ einzunehmen. Sie fragen, wer überhaupt darüber entscheidet, wer Teil eines Landes ist.
Zugehörigkeit hat etwas mit Teilhabe zu tun. Ich fühle mich in vielerlei Hinsicht dazugehörig. Aber ich kenne es auch aus eigener Erfahrung, dass ich wegen meiner Hautfarbe Jobs oder Wohnungen nicht bekommen habe. Ich fühle mit anderen mit, die das auch erleben, aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung. Was ihnen geschieht, könnte mir auch geschehen. Das löst etwas bei mir aus. Ich bin mittlerweile relativ privilegiert durch meinen Job. Aber es könnte auch ganz anders aussehen.

Stichwort Job: Sie sind Moderator, Autor, Schauspieler, Sänger und Comedian. Das wirkt erst mal wie ein schillernder Gegensatz zu Ihrer Religiosität und Ihrem Auftreten im Chrismon-Magazin.
Wer sagt, dass das ein Gegensatz ist? (lacht) Das sind verschiedene Realitäten, die gleichzeitig da sind. Und das ist ja das Schöne. Wir sind Eltern, wir sind berufstätig. Ich bin ein schwarzer Mann. Ich komme aus Oromia (Region Äthiopiens, Anm. d. Red.), ich habe Fluchterfahrung. Aber ich bin ja nicht alles isoliert, sondern zugleich. Für mich sind das alles wichtige Teile meines Lebens, die mich inspirieren. Und sie tragen dazu bei, dass ich ein wirklich sehr vielfältiges Leben führe. Deswegen glaube ich, es ist überhaupt gar kein Widerspruch.
Für ihren Job gehen Sie buchstäblich über die Dörfer und zwar im Norden.
Ja, mit meiner Sendung „Yared kommt rum“. Da stellte sich schnell raus: Dorf ist nicht gleich Dorf.
Da wären wir wieder bei der Vielfalt …
Ja, Dörfer sind auch vielfältig. In einem Dorf ist die Feuerwehr groß. Im anderen ist es der Schützenverein. Dann gibt es ein Dorf, das ein Backhaus für alle hat, woanders steht ein Mehrgenerationenhaus. Manche Menschen kommen nach Ewigkeiten wieder und sagen, das ist meine Heimat. Andere leben ein Leben lang in einem Dorf und sind aus ihrem Haus nie ausgezogen. Die sind 80, 85 und sagen, hier kriegst du mich nicht mehr weg. Das finde ich total inspirierend.
Inwiefern?
Wie sie Krisen durchstehen, ihr Leben meistern, mit Verlusten umgehen und wie sie Erfolgsgeschichten schreiben.
Gibt es ein Erlebnis aus den mittlerweile vier Staffeln der Sendung, das Sie nicht loslässt?
Ja: In Dechow, Mecklenburg-Vorpommern, überreichte mir jemand eine Zeitung aus dem November 1978 – im Februar 1979 floh meine Familie aus Äthiopien. Zu der Zeit war Diktator Mengistu Haile Mariam an der Macht. Er war wegen seines Besuchs in der DDR mit Erich Honecker auf der Titelseite dieser Zeitung.
Ich sage bei meinen Bühnenprogramm aus Spaß, ich sei ein Ossi, weil ich aus Ostafrika komme. Klingt komisch, hat aber einen ernsthaften Hintergrund, weil Äthiopien zum Ostblock gehörte und die ehemalige DDR ein Bruderland Äthiopiens war. Deshalb gibt es Dinge, die beide Länder verbanden: Diktatur, keine Meinungsfreiheit, Lebensmittelknappheit, Schlangestehen und all diese ganzen Dinge. Wir treffen uns also irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern und dieser Mann holt die Zeitung heraus. Das hat mich sehr tief gerührt. Wir hatten eigentlich nichts miteinander zu tun, aber wir haben eine sehr ähnliche Vergangenheit.

Sie müssen gleich wieder auf den nächsten Termin.
Ja, genau. Im Moment drehen wir noch für die Sendung „Vereint im Norden“.
Und das alles plus die vielfältigen Auftritte. Ihre Tage scheinen mehr Stunden zu haben als unsere.
Es ist immer alles ziemlich dicht gepackt. Und dabei ist Multitasking nicht so meine Stärke. Sobald ich dann auf dem Dorf beim Drehen bin und mein Thema habe, ist alles wieder gut. Das gefällt mir. Aber ich musste schon viel darüber lernen, wie ich mich organisiere.
Wir hätten gedacht, dass Sie ein Naturtalent sind, was Multitasking angeht.
Nein, ich find das tatsächlich anstrengend.
Wonach wählen Sie Sie ihre Jobs aus?
Es muss zu mir passen. Ich würde zum Beispiel keine parteipolitischen Themen machen. Wenn es um Menschenrechte oder Glauben geht, bin ich dabei. Oder schlicht, wenn es sich um Spaß und Unterhaltung dreht und es gut gemacht ist. Das gilt auch für die Bereiche Musik und Comedy.
Man sieht es Ihnen an, Ihre Arbeit begeistert Sie. Aber was genau daran packt Sie so?
Erstens, es ist wirklich nicht langweilig. Ich habe auch noch meinen Club „Uwe“ auf der Reeperbahn. Das Leben tickt dort anders, ganz unabhängig von irgendeiner Szene. Dann in einer Livesendung zu sein, ein Event zu moderieren, ein Bühnenprogramm zu haben, in einem kleinen Dorf zu drehen, wo die Menschen wieder einen anderen Lebenswandel haben und nur Platt snakken und dann, wieder Szenenwechsel, einen Diversity-Workshop zu leiten, wo nur zwölf Leute sitzen und sich über Diversität bis ins Detail unterhalten, das ist sehr vielfältig und auch cool. Es ist immer etwas dabei, woraus ich viel lerne.
Herr Dibaba, wir bedanken uns für dieses vielfältige und offene Gespräch.
Yared Dibaba
ist ausgebildeter Groß- und Einzelhandelskaufmann sowie Schauspieler. Seit 2001 ist er als Moderator tätig. Seine Sendung “Yared kommt rum” startete 2022. Sie läuft freitags um 21.15 Uhr im NDR. Seit Mai 2023 zählt Dibaba außerdem zu den drei Herausgebern des evangelischen Monatsmagazins Chrismon. Dibaba engagiert sich vielfältig für die Einhaltung von Menschenrechten.